Am Montag und Dienstag lösen wieder Tausende von Schülerinnen und Schülern in Zürich Prüfungsaufgaben in Deutsch, Mathematik sowie mitunter in Französisch oder Englisch. Die eine Hälfte will nach der sechsten Primarklasse ans Langgymnasium, die andere nach der zweiten oder dritten Sekundarklasse ans Kurzgymnasium, die Fach- oder die Handelsmittelschule.Wenn es nach dem Willen eines linken Politikers geht, soll zumindest Letzteres bald der Vergangenheit angehören. Peter Haberstich, Mitglied der kantonalen SP-Bildungskommission, fordert eine Abschaffung der Aufnahmeprüfung für Zürcher Maturitätsschulen für Sekundarschüler. Eine Forderung, die so oder ähnlich immer wieder einmal aufgebracht wird.
Warum es den "gerechten" Übertritt ins Gymnasium nicht geben kann, NZZ, 6.3. von Lena Schenkel und Nils Pfändler
Nach Ansicht von
Haberstich sollten stattdessen Lehrerinnen und Lehrer eine Übertrittsempfehlung
aussprechen. Damit würden auch das Lernverhalten und die Leistungen in allen
Fächern in die Beurteilung einfliessen, findet er. Kandidaten ohne eine solche
Empfehlung sollen auf Wunsch aber weiterhin eine Prüfung ablegen dürfen.
Haberstich und seine
Partei, welche die im Kantonsrat eingereichte Einzelinitiative unterstützt,
erhoffen sich davon ein für die Kandidatinnen «gerechteres und stressfreieres
Auswahlverfahren». Im jetzigen System würden jene Schüler benachteiligt, die
sich keine privaten Vorbereitungskurse leisten könnten oder daheim nicht bei
der Prüfungsvorbereitung unterstützt würden.
Schliesslich soll mit
dieser Umstellung auch die öffentliche Sekundarschule insgesamt gestärkt
werden. Dies, weil nach Meinung von Haberstich mehr Schüler den Weg über die
Sek wählen würden, statt schon nach der Primarschule ans Langgymnasium zu
drängen. Das wiederum reduzierte den Leistungsdruck auf die jungen Kinder und
machte die Sekundarschule durchmischter.
Lehrer sind gegen
Empfehlungsverfahren
Mit Haberstichs
Argumentation und seinen Vorschlägen sind nicht alle einverstanden. Namentlich
aus der Lehrerschaft gibt es Kritik. Daniel Kachel präsidiert den Verein
Sekundarlehrkräfte des Kantons Zürich. Er sagt: Müssten diese eine Empfehlung
für einen Übertritt an eine Maturitätsschule aussprechen, gerieten sie allzu
stark unter Druck, namentlich von Eltern. Der Initiant Haberstich entgegnet,
dass diese Gefahr auf der Sekundarstufe weniger gegeben sei, weil anders als
auf der Primarstufe mehrere (Fach-)Lehrer den Entscheid fällen würden.
Aus
wissenschaftlicher Sicht sind Lehrerempfehlungen nicht über alle Zweifel
erhaben. Eine deutsche Studie aus dem Jahr 2011 zeigt,
dass etwas mehr als jeder zwanzigste Schüler entgegen der persönlichen
Einschätzung der Lehrerin eine Übertrittsempfehlung fürs Gymnasium erhielt. Das
heisst, sie liess sich durch äussere Umstände von ihrer ursprünglichen Haltung
abbringen.
Die Forscher fanden
heraus, dass der soziale Hintergrund der Schüler dabei ebenso eine Rolle
spielte wie das Verhalten der Eltern. Vereinfacht gesagt: Sozial privilegierte
Kinder erhalten eher eine Empfehlung – auch weil ihre Mütter und Väter eher
intervenieren. Der ungerechte Effekt wird dadurch verstärkt, dass bildungsferne
Eltern die schlechtere Bewertung ihres Kindes beziehungsweise eine
Nichtempfehlung weniger infrage stellen und sich seltener wehren.
Dass
Elternerwartungen die Lehrkräfte und deren Selektionsentscheide stark
beeinflussen, legt auch eine Studie von 2013 am Beispiel des
Übertritts von der Primar- in die Sekundarstufe im Kanton Luzern dar.
Haberstichs Argument, wonach etliche Kantone bereits positive Erfahrungen mit
dem prüfungsfreien Übertritt in die Maturitätsschulen machten, ist insofern mit
Vorsicht zu geniessen, als der Andrang in Zürich ungleich grösser ist als etwa
im Aargau oder in der Innerschweiz.
Nach Meinung des
Sekundarlehrers Kachel müssten zudem Kriterien für eine solche Empfehlung
festgelegt werden. «Dann wäre man schnell wieder bei den Noten, die
gewissermassen bereits eine Lehrerempfehlung widerspiegeln.»
Empfehlungsverfahren
seien in Zürich ein alter Hut, dessen man sich längst entledigt habe, sagt
Kachel. In einer früheren Vernehmlassung zum Prüfungsreglement hatten sich
insbesondere Lehrerinnen und Lehrer dagegen ausgesprochen. Kachel findet es
deshalb «höchst seltsam und unzeitgemäss», eine solche Forderung erneut aufs
Tapet zu bringen. Zudem sei es der falsche Zeitpunkt, schon wieder Änderungen
an den Prüfungsmodalitäten anzuregen.
Bald gibt es neue
Prüfungsregeln
Erst im Frühling 2019
erliess der Zürcher Regierungsrat eine neue Verordnung für die zentralen
Aufnahmeprüfungen der Zürcher Maturitätsschulen, die wohl ab der Ausgabe 2023
gelten dürfte. Ab dann werden mit Ausnahmen auch Sekundarschülern
Erfahrungsnoten angerechnet. Die mündliche Nachprüfung für Wackelkandidaten mit
knapp ungenügendem Testresultat entfällt, ebenso die Französischprüfung für
Anwärterinnen auf das Kurzgymnasium.
Doch wie Haberstich
stellen sich viele die Frage: Ist dieses Auswahlverfahren auch wirklich fair?
Auf jeden Fall ist es sehr selektiv: Rund die Hälfte der Prüflinge fällt durch.
Jahr für Jahr brechen in Zürich neue Debatten darüber aus. In der Regel immer
dann, wenn die Aufnahmeprüfungen am Zeithorizont erscheinen.
Der Leiter des
Zürcher Mittelschul- und Berufsbildungsamts, Niklaus Schatzmann, hält das
System für fair, wie er auf Anfrage sagt. Das zeige auch die Erfolgsquote der
Schüler, welche die Aufnahmeprüfung bestehen würden: «Sie bewältigen mit sehr
grosser Wahrscheinlichkeit auch die Probezeit.»
Laut Schatzmann ist
es unbestritten, dass man das Thema Chancengerechtigkeit im Auge behalten muss.
Er weist aber auch darauf hin, dass bei der Menge an Kandidaten und der Grösse
des Prozesses immer ein gewisser Schematismus nötig sei. Alle Einzelfälle
zufriedenzustellen, vermöge man kaum. «Wenn man eine Ungerechtigkeit behebt,
dann schafft man eine neue.»
Allenfalls fairer,
aber nie gerecht
Die Erziehungswissenschafterin Margrit Stamm, die sich auf Fragen der Bildungsgerechtigkeit spezialisiert hat, sagt, ein prüfungsfreier Zugang zu den Maturitätsschulen sei aus wissenschaftlicher Sicht fairer als einer mit. «Das Reüssieren an der Prüfung kann tatsächlich erkauft werden.» Auch stütze diese Art der Selektion allein auf Noten ab, welche anfällig für Verzerrungen seien. Ausserdem stuft sie selbständiges Denken, Eigeninitiative oder Ausdauer als genauso wichtig ein, um dort und später an der Universität oder einer Fachhochschule bestehen zu können.
Trotzdem sagt Stamm:
«Eine Abschaffung der Aufnahmeprüfung packt das Problem der ungleichen Chancen
nicht bei der Wurzel.» Die Weichen würden nämlich schon beim Schuleintritt
gestellt. Ihr Lösungsansatz wäre deshalb eine systematische frühkindliche Förderung,
wie sie auch die Schweizer Unesco-Kommission und der Schweizer Wissenschaftsrat fordern. Eine
Forderung, die politisch indes umstritten ist. Ganz grundsätzlich braucht es
laut Stamm jedoch vor allem eine Veränderung in den Köpfen von Lehrerinnen und
Eltern, um das brachliegende Potenzial benachteiligter Kinder besser zu
erkennen und anzuerkennen.
Was das
Übertrittsverfahren bezüglich der Maturitätsschulen betrifft, sagt Stamm: «Es
gibt keine wissenschaftlichen Belege dafür, dass das eine oder andere Verfahren
zu einem Abbau der sozialen Ungleichheit führt.» Weder mit einer seriösen
Notengebung noch mit einem wissenschaftlich durchdachten System könne man den
Übertrittsentscheid «gerecht» gestalten – höchstens fairer. «Welches Verfahren
gewählt wird, bleibt deshalb eine politische Glaubensfrage.»
Wissenschaft im
Spannungsfeld der Politik
Ein anderer Experte in Sachen Bildungsgerechtigkeit ist Jürg Schoch, ehemaliger Leiter des privaten Gymnasiums und des Instituts Unterstrass. Dort entstand das Förderprogramm Chagall für begabte jugendliche Migranten, das, einem parlamentarischen Vorstoss folgend, auf den ganzen Kanton ausgeweitet werden soll. Schoch ist Mitautor der Studie «Soziale Selektivität», die 2018 im Auftrag des Schweizerischen Wissenschaftsrates erschienen ist.
Eine systematische
Frühförderung wäre auch laut dieser das erste Gebot für mehr
Bildungsgerechtigkeit. «Das ist politisch aber offensichtlich noch nicht
überall mehrheitsfähig», sagt Schoch. Noch weniger Chancen habe die Forderung
der Wissenschaft nach einer späteren Selektion «frühestens ab der zweiten
Sekundarklasse», was eine Abschaffung des Langgymnasiums bedeutete.
Was das
Übertrittsverfahren betrifft, fände Schoch zusätzliche mündliche Prüfungen für
alle am fairsten. Damit könnte auch die Motivation für eine akademische
Laufbahn beurteilt werden. Es gehe schliesslich um eine prognostische
Beurteilung der Frage, ob eine Maturität für die Kandidaten machbar sei. Es sei
schade, dass dies aus praktischen Gründen schwer umsetzbar sei. Dass nun sogar
die mündliche Prüfung für Grenzfälle abgeschafft wird, findet er stossend.
Auch dass in Zukunft
nur noch zwei Fächer geprüft werden, bedauert Schoch. Wenn es eine
Aufnahmeprüfung gibt, muss diese aus seiner Sicht möglichst breit aufgestellt
sein. Dass Vornoten wieder in die Beurteilung einfliessen, sei wiederum
begrüssenswert, um den Effekt eines «teaching to the test» für Privilegierte
abzuschwächen.
Die Ideen drehen sich
im Kreis
Und was empfiehlt der
oberste Sekundarlehrer Kachel, der sich gegen Lehrerempfehlungen ausspricht,
für mehr Fairness? Er fände es lohnenswert, bei den Prüfungsvorbereitungskursen
anzusetzen und diese für alle Primar- und Sekundarschüler kostenlos und auf
qualitativ hohem Niveau anzubieten.
Ein entsprechender
Vorstoss, die Gemeinden zur Durchführung solcher Kurse zu verpflichten,
scheiterte allerdings 2013 im Kantonsrat mit der Begründung, damit würde zu
stark in die Gemeindeautonomie eingegriffen. Ausserdem seien solche Kurse
systemfremd; die Kompetenzen für eine Maturitätsschule sollten im Regelunterricht
erworben werden können. Auch der Initiant Haberstich findet: Wenn das nicht
möglich sei, dann stimme entweder beim Niveau der Gymnasien oder bei jenem der
Volksschule etwas nicht.
Was er bis anhin
nicht wusste: Seine Idee, die Prüfung abzuschaffen, ist nicht neu. Sie wurde in
ähnlicher Form 2013 schon einmal im Kantonsrat eingebracht – und verworfen.
Damals forderten die Initianten aus den Reihen der Grünen, der SP und der EVP
eine Abschaffung der Prüfung für Primar- und Sekundarschüler. Die Gründe für
die Ablehnung dürften auch der jetzigen Initiative Gegenwind verschaffen,
selbst wenn sich die Mehrheitsverhältnisse im Parlament inzwischen geändert
haben.
Eine ersatzlose
Abschaffung stand für die zuständige Bildungskommission damals nicht zur
Diskussion: Sämtliche Aufnahmewilligen probehalber aufzunehmen, wäre für die
Schulen logistisch und finanziell nicht machbar. Stattdessen wurde beschlossen,
die Vorleistungen der Schüler «angemessen» zu berücksichtigen. Das sollte das
Gewicht der Prüfung schmälern, auf die manche Kandidatinnen gezielt trainieren
und deren Ergebnis stark von der Tagesform der Prüflinge abhängt.
Aufgrund des
Widerstands der Lehrer hatte man auf Vorleistungen in Form von Empfehlungen
verzichtet. Aus diesem Grund werden Vornoten für Sekundarschüler bald wieder
zählen. Dies war bereits bis 2015 der Fall. Seit dann sind auch Sek-B-Schüler
zur Prüfung zugelassen. Weil man die Vornoten der verschiedenen
Sekundarabteilungen als nicht vergleichbar erachtete, wurden sie nicht mehr
berücksichtigt. Bis heute zählt für Sekundarschülerinnen nur die Prüfungsnote.
Eine Lösung des
anerkannten Problems scheint nicht in Sicht
Die neue, alte
Initiative Haberstichs zeigt, dass die faire Zulassung vor allem zu den
Gymnasien in Zürich ein Dauerbrenner bleibt. Der Initiant Haberstich lässt sich
davon nicht abschrecken. «Bloss weil es die ideale Lösung nicht gibt und alle
Alternativen auch wieder neue Ungerechtigkeiten schaffen können, kann man ja
trotzdem versuchen, diejenige Lösung zu finden, welche am wenigsten
Ungerechtigkeit schafft und die grösste Annäherung an den Idealzustand
erreicht», schreibt er. Genau das versuche er mit seinem Vorstoss.
Klar und
wissenschaftlich belegt ist: Kinder aus deutschsprachigen, bildungsnahen,
gutsituierten Haushalten haben einen deutlichen Startvorteil für eine höhere
Schulbildung. Das ist nicht nur für die Betroffenen ungerecht. Angesichts des
Fachkräftemangels ist es aus wirtschaftlicher Sicht nicht wünschenswert, wenn
dem universitären Bildungssystem kluge Köpfe abhandenkommen. Das Problem ist hinlänglich bekannt – nur
über die Lösung streiten sich Bildungsexpertinnen und Politiker noch immer.
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