Virtuelle Klassenzimmer, Erklärvideos und Online-Übungen haben in den vergangenen Monaten einen Aufschwung erlebt. Laut Experten ist aber Zurückhaltung gefragt.
Digitale Lernplattformen boomen in der Corona-Krise – doch ein Ersatz für das gute alte Schulbuch sind sie nicht, NZZ, 4.3. von Nils Pfändler
Drei Klicks, und das Video läuft. Auf dem Bildschirm ist ein digitales Whiteboard zu sehen, aus dem Off hört man die Stimme der Mathematiklehrerin Severina. Sie sagt: «In diesem Video zeige ich dir, wie du Geschwindigkeiten berechnen kannst, wie du sie mit den richtigen Einheiten notierst und wie du sie auch in Diagrammen darstellen kannst.»
Zwei Klicks weiter
wartet der Deutschlehrer Christian. Er erklärt: «Gedichte sind Texte, deren
Inhalt tiefsinnig und deren Stil kunstvoll ist – ganz vereinfacht gesagt», um
danach anhand von drei kurzen Gedichten verschiedene Reimarten vorzustellen.
Die
Französischlehrerin Noëlie erklärt den Unterschied zwischen betonten und
unbetonten Personalpronomen. «Wenn du etwas nachlesen möchtest, kannst du das
gerne mit der Zusammenfassung machen, und sonst kannst du auch schon mit den
Übungen weiterfahren. Bonne chance!»
Seit Ende Februar ist
die Lernplattform Schlaufux online. Sie bietet Erklärvideos, Zusammenfassungen
und Übungen für Mathematik, Deutsch und Französisch «zu allen wichtigen
Themen», wie die Website verspricht – und das für alle Schulstufen ab der
5. Klasse über die Berufsmittelschule und bis zum Ende des Gymnasiums.
Digital wegen Corona
Entwickelt wurde
Schlaufux von den Gründern einer Zürcher Nachhilfeschule. Der Mitgründer
Christian Marty sagt, dass er und seine Partner schon bei der Eröffnung der
Schule vor drei Jahren die Absicht gehabt hätten, ein digitales Angebot zu
schaffen. Nach einer zweijährigen Aufbauphase ist die Plattform nun online.
Das Angebot
entspricht einem Trend. Während der Corona-Krise haben digitale Lehrmittel,
Erklärvideos und Online-Übungen einen Aufschwung erlebt. Interessierten sich
lange nur die technikbegeisterten Lehrerinnen und Lehrer für solche Angebote,
griffen nach den Schulschliessungen vergangenes Jahr plötzlich viele darauf
zurück. Die Not des Fernunterrichts war grösser als die Hemmungen. Plötzlich
war Schule digital.
Nach dem
Ausnahmezustand im Frühling 2020 kehrten viele Lehrer aber wieder zu alten
Mustern und Methoden zurück. Welche Rolle die Digitalisierung in einem
zeitgemässen Unterricht spielen soll, darüber wird seither mehr denn je
diskutiert. Während für die Verfechter des Altbewährten Bücher, Hefte, Stift
und Papier, Kreide auf der Wandtafel und mitunter sogar der Hellraumprojektor
nach wie vor das Nonplusultra sind, sehen digitale Visionäre in virtuellen
Räumen die Zukunft des Klassenzimmers.
Für Patrick
Bettinger, Inhaber einer Professur für Medienbildung an der Pädagogischen
Hochschule Zürich, schliesst das eine das andere nicht aus. Er plädiert für
einen gesamtheitlichen Blick auf das Lehren und Lernen: «Wenn solche
Plattformen bewusst als Bausteine in einem pädagogischen Konzept eingebettet
sind, dann können sie eine gute Ergänzung sein.» Die Vorteile sieht Bettinger
vor allem darin, dass das Lernen über das Klassenzimmer hinausgeht. Das mache
die Schülerinnen und Schüler zeitlich und räumlich unabhängiger.
Ob der Einsatz eines
digitalen Lehrmittels im Unterricht sinnvoll ist oder nicht, lässt sich laut
Bettinger jedoch kaum pauschal beurteilen. Der Kontext sei entscheidend: «Wie
ist der Entwicklungsstand? Wie gross das Vorwissen der Schülerinnen und
Schüler? Welche Kompetenzen sind vorhanden? Was bringt die Zielgruppe mit?» –
All diese Fragen müssten mitgedacht werden.
Der PH-Professor
beobachtet, dass die Schüler immer mehr auf Lernvideos aus dem Internet
zurückgreifen. Allerdings fehle auf manchen Plattformen eine
Qualitätskontrolle. So auch auf Youtube, das bei vielen Kindern und
Jugendlichen hoch im Kurs steht. Für sie sei es nicht immer ganz einfach,
qualitativ hochstehende Inhalte zu erkennen. Das Angebot sei mittlerweile
riesig und unübersichtlich.
Für Bettinger stellt
sich noch ein weiteres Problem: Der vermehrte Einsatz von digitalen Lehrmitteln
könne bestehende Ungleichheiten vergrössern. Sozial benachteiligten Schülern fehle
häufiger der Zugang zu einem internetfähigen Gerät. Manche verfügten zudem
nicht über die Fähigkeit oder die Erfahrung, zu erkennen, welche Plattformen
sinnvoll seien.
Trotz solchen Hürden
ortet Bettinger bei digitalen Lehrmitteln ein grosses Potenzial. Laut dem
Professor könnte es sein, dass die Schulen nach der Corona-Pandemie
insbesondere auf den höheren Schulstufen nicht mehr an durchgängigem
Präsenzunterricht mit bestimmter Stundenzahl festhalten, sondern Formen finden,
um mehr Flexibilität zu ermöglichen. «Phasen von physischer Präsenz und
Distanzlernen könnten sich abwechseln», sagt Bettinger. «Dort könnten solche
digitalen Bausteine eine wichtige Rolle spielen.»
Das «Flaggschiff» des
Marktführers
Immer mehr solche
Bausteine möchte auch der Lehrmittelverlag Zürich (LMVZ) bieten. Dirk Vaihinger
ist Redaktionsleiter und Mitglied der Geschäftsleitung beim grössten
Lehrmittelverlag der Schweiz. Er sagt: «Alle Lehrmittel, die derzeit in
Entwicklung sind, haben einen hohen digitalen Anteil.» Bereits auf dem Markt
ist das «Flaggschiff» des Verlags, wie Vaihinger das Französischlehrmittel «Dis donc!» nennt.
Es besteht nicht nur aus Büchern und Heften, sondern auch aus einer digitalen
Lernplattform mit interaktiven Übungen, Lernvideos sowie einem automatisierten
Wortschatztrainer und ist auch als volldigitale Version erhältlich.
Das Angebot kommt an
– besonders in Corona-Zeiten: Als der Verlag kurz vor den Schulschliessungen im
Frühling beschloss, alle digitalen Lehrmittel vorübergehend kostenlos zur
Verfügung zu stellen, wurden mehr als 140 000 Gratislizenzen gelöst.
Trotzdem ist es laut
Vaihinger auch künftig nicht das Ziel, möglichst alles digital zu machen.
Vielmehr gelte es, das Beste aus allen Welten zu vereinen. «Ich finde es keine
gute Idee, dass Kinder nur noch vor dem Bildschirm sitzen sollen. Von Hand
schreiben ist immer noch ein wichtiger Teil des kognitiven Lernprozesses.»
Konkurrenz der
Tech-Riesen
In den vergangenen
Jahren ist auch das Thema Datenschutz immer wichtiger geworden. Vaihinger macht
ein Beispiel: Früher verlinkte der Lehrmittelverlag bei den digitalen
Karteikarten auf die Lernsoftware von Quizlet. Kürzlich begann der
amerikanische Anbieter jedoch, Log-ins einzufordern und Werbung zu schalten.
«Da haben wir kurzerhand einen eigenen Wortschatztrainer programmiert», sagt
Vaihinger.
Heute versuche man,
möglichst viel selbst zu produzieren. Bei fremden Inhalten prüfe man den
Urheber genau. Laut der Einschätzung der Zürcher Datenschutzbeauftragten ist
das digitale Angebot des LMVZ unbedenklich. «Die Abhängigkeit von den grossen
Tech-Firmen ist ein grosses Thema, nicht nur im Bildungsbereich», sagt
Vaihinger. «Wir wollen schauen, dass sie das Feld nicht übernehmen.»
Dieses Feld, in das
nun auch das Zürcher Startup Schlaufux drängt, ist breit abgesteckt. Mit ihrem
Nachhilfeangebot wollen die Gründer in eine Nische stossen. «Ein Abo wie bei
Netflix», so bewerben sie das Angebot. Der Preis von 49 Franken pro Monat ist
allerdings deutlich höher als bei der amerikanischen Plattform für Filme und
Serien. Und die Konkurrenz im Netz ist gross: Vom amateurhaften Erklärvideo bis
hin zum professionell produzierten digitalen Lehrmittel ist alles vorhanden.
Von allen anderen Ablenkungen ganz zu schweigen.
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