4. März 2021

Lernplattformen kein Ersatz für das Schulbuch

Virtuelle Klassenzimmer, Erklärvideos und Online-Übungen haben in den vergangenen Monaten einen Aufschwung erlebt. Laut Experten ist aber Zurückhaltung gefragt.

Digitale Lernplattformen boomen in der Corona-Krise – doch ein Ersatz für das gute alte Schulbuch sind sie nicht, NZZ, 4.3. von Nils Pfändler

Drei Klicks, und das Video läuft. Auf dem Bildschirm ist ein digitales Whiteboard zu sehen, aus dem Off hört man die Stimme der Mathematiklehrerin Severina. Sie sagt: «In diesem Video zeige ich dir, wie du Geschwindigkeiten berechnen kannst, wie du sie mit den richtigen Einheiten notierst und wie du sie auch in Diagrammen darstellen kannst.»

Zwei Klicks weiter wartet der Deutschlehrer Christian. Er erklärt: «Gedichte sind Texte, deren Inhalt tiefsinnig und deren Stil kunstvoll ist – ganz vereinfacht gesagt», um danach anhand von drei kurzen Gedichten verschiedene Reimarten vorzustellen.

Die Französischlehrerin Noëlie erklärt den Unterschied zwischen betonten und unbetonten Personalpronomen. «Wenn du etwas nachlesen möchtest, kannst du das gerne mit der Zusammenfassung machen, und sonst kannst du auch schon mit den Übungen weiterfahren. Bonne chance!»

Seit Ende Februar ist die Lernplattform Schlaufux online. Sie bietet Erklärvideos, Zusammenfassungen und Übungen für Mathematik, Deutsch und Französisch «zu allen wichtigen Themen», wie die Website verspricht – und das für alle Schulstufen ab der 5. Klasse über die Berufsmittelschule und bis zum Ende des Gymnasiums.

Digital wegen Corona

Entwickelt wurde Schlaufux von den Gründern einer Zürcher Nachhilfeschule. Der Mitgründer Christian Marty sagt, dass er und seine Partner schon bei der Eröffnung der Schule vor drei Jahren die Absicht gehabt hätten, ein digitales Angebot zu schaffen. Nach einer zweijährigen Aufbauphase ist die Plattform nun online.

Das Angebot entspricht einem Trend. Während der Corona-Krise haben digitale Lehrmittel, Erklärvideos und Online-Übungen einen Aufschwung erlebt. Interessierten sich lange nur die technikbegeisterten Lehrerinnen und Lehrer für solche Angebote, griffen nach den Schulschliessungen vergangenes Jahr plötzlich viele darauf zurück. Die Not des Fernunterrichts war grösser als die Hemmungen. Plötzlich war Schule digital.

Nach dem Ausnahmezustand im Frühling 2020 kehrten viele Lehrer aber wieder zu alten Mustern und Methoden zurück. Welche Rolle die Digitalisierung in einem zeitgemässen Unterricht spielen soll, darüber wird seither mehr denn je diskutiert. Während für die Verfechter des Altbewährten Bücher, Hefte, Stift und Papier, Kreide auf der Wandtafel und mitunter sogar der Hellraumprojektor nach wie vor das Nonplusultra sind, sehen digitale Visionäre in virtuellen Räumen die Zukunft des Klassenzimmers.

Für Patrick Bettinger, Inhaber einer Professur für Medienbildung an der Pädagogischen Hochschule Zürich, schliesst das eine das andere nicht aus. Er plädiert für einen gesamtheitlichen Blick auf das Lehren und Lernen: «Wenn solche Plattformen bewusst als Bausteine in einem pädagogischen Konzept eingebettet sind, dann können sie eine gute Ergänzung sein.» Die Vorteile sieht Bettinger vor allem darin, dass das Lernen über das Klassenzimmer hinausgeht. Das mache die Schülerinnen und Schüler zeitlich und räumlich unabhängiger.

Ob der Einsatz eines digitalen Lehrmittels im Unterricht sinnvoll ist oder nicht, lässt sich laut Bettinger jedoch kaum pauschal beurteilen. Der Kontext sei entscheidend: «Wie ist der Entwicklungsstand? Wie gross das Vorwissen der Schülerinnen und Schüler? Welche Kompetenzen sind vorhanden? Was bringt die Zielgruppe mit?» – All diese Fragen müssten mitgedacht werden.

Der PH-Professor beobachtet, dass die Schüler immer mehr auf Lernvideos aus dem Internet zurückgreifen. Allerdings fehle auf manchen Plattformen eine Qualitätskontrolle. So auch auf Youtube, das bei vielen Kindern und Jugendlichen hoch im Kurs steht. Für sie sei es nicht immer ganz einfach, qualitativ hochstehende Inhalte zu erkennen. Das Angebot sei mittlerweile riesig und unübersichtlich.

Für Bettinger stellt sich noch ein weiteres Problem: Der vermehrte Einsatz von digitalen Lehrmitteln könne bestehende Ungleichheiten vergrössern. Sozial benachteiligten Schülern fehle häufiger der Zugang zu einem internetfähigen Gerät. Manche verfügten zudem nicht über die Fähigkeit oder die Erfahrung, zu erkennen, welche Plattformen sinnvoll seien.

Trotz solchen Hürden ortet Bettinger bei digitalen Lehrmitteln ein grosses Potenzial. Laut dem Professor könnte es sein, dass die Schulen nach der Corona-Pandemie insbesondere auf den höheren Schulstufen nicht mehr an durchgängigem Präsenzunterricht mit bestimmter Stundenzahl festhalten, sondern Formen finden, um mehr Flexibilität zu ermöglichen. «Phasen von physischer Präsenz und Distanzlernen könnten sich abwechseln», sagt Bettinger. «Dort könnten solche digitalen Bausteine eine wichtige Rolle spielen.»

Das «Flaggschiff» des Marktführers

Immer mehr solche Bausteine möchte auch der Lehrmittelverlag Zürich (LMVZ) bieten. Dirk Vaihinger ist Redaktionsleiter und Mitglied der Geschäftsleitung beim grössten Lehrmittelverlag der Schweiz. Er sagt: «Alle Lehrmittel, die derzeit in Entwicklung sind, haben einen hohen digitalen Anteil.» Bereits auf dem Markt ist das «Flaggschiff» des Verlags, wie Vaihinger das Französischlehrmittel «Dis donc!» nennt. Es besteht nicht nur aus Büchern und Heften, sondern auch aus einer digitalen Lernplattform mit interaktiven Übungen, Lernvideos sowie einem automatisierten Wortschatztrainer und ist auch als volldigitale Version erhältlich.

Das Angebot kommt an – besonders in Corona-Zeiten: Als der Verlag kurz vor den Schulschliessungen im Frühling beschloss, alle digitalen Lehrmittel vorübergehend kostenlos zur Verfügung zu stellen, wurden mehr als 140 000 Gratislizenzen gelöst.

Trotzdem ist es laut Vaihinger auch künftig nicht das Ziel, möglichst alles digital zu machen. Vielmehr gelte es, das Beste aus allen Welten zu vereinen. «Ich finde es keine gute Idee, dass Kinder nur noch vor dem Bildschirm sitzen sollen. Von Hand schreiben ist immer noch ein wichtiger Teil des kognitiven Lernprozesses.»

Konkurrenz der Tech-Riesen

In den vergangenen Jahren ist auch das Thema Datenschutz immer wichtiger geworden. Vaihinger macht ein Beispiel: Früher verlinkte der Lehrmittelverlag bei den digitalen Karteikarten auf die Lernsoftware von Quizlet. Kürzlich begann der amerikanische Anbieter jedoch, Log-ins einzufordern und Werbung zu schalten. «Da haben wir kurzerhand einen eigenen Wortschatztrainer programmiert», sagt Vaihinger.

Heute versuche man, möglichst viel selbst zu produzieren. Bei fremden Inhalten prüfe man den Urheber genau. Laut der Einschätzung der Zürcher Datenschutzbeauftragten ist das digitale Angebot des LMVZ unbedenklich. «Die Abhängigkeit von den grossen Tech-Firmen ist ein grosses Thema, nicht nur im Bildungsbereich», sagt Vaihinger. «Wir wollen schauen, dass sie das Feld nicht übernehmen.»

Dieses Feld, in das nun auch das Zürcher Startup Schlaufux drängt, ist breit abgesteckt. Mit ihrem Nachhilfeangebot wollen die Gründer in eine Nische stossen. «Ein Abo wie bei Netflix», so bewerben sie das Angebot. Der Preis von 49 Franken pro Monat ist allerdings deutlich höher als bei der amerikanischen Plattform für Filme und Serien. Und die Konkurrenz im Netz ist gross: Vom amateurhaften Erklärvideo bis hin zum professionell produzierten digitalen Lehrmittel ist alles vorhanden. Von allen anderen Ablenkungen ganz zu schweigen.

 

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