Wenn wir unser Zusammenleben auch in Corona-Zeiten menschlich gestalten wollen, sollten wir versuchen, vor allem das zu bewahren und zu stärken, was uns als Menschen ausmacht. Wir müssten also nach dem menschlichen Herausstellungsmerkmal suchen, das uns nicht nur von anderen Lebewesen, sondern nun vor allem auch von unseren digitalen Geräten, Robotern und Automaten grundsätzlich unterscheidet.
Anweisung zum Unglücklichsein - was die Corona-Massnahmen mit unseren Kindern machen, NZZ, 19.12. von Gerald Hüther
Interessanterweise waren es nicht die Psychologen oder Hirnforscher,
auch nicht die Seelsorger oder Pädagogen, sondern die Experten auf dem Gebiet
der Entwicklung künstlicher Intelligenz, die das herausgefunden haben: Digitale
Geräte haben keine Bedürfnisse. Deshalb können sie auch keine eigenen
Vorstellungen davon herausbilden, wie ein solches inneres Bedürfnis gestillt
werden könnte. Und weil sie dazu nicht in der Lage sind, können sie auch keinen
eigenen Willen hervorbringen, um eine solche Vorstellung dann auch umzusetzen.
Ein Bedürfnis in uns
Bisher waren wir froh, uns einigermassen darauf geeinigt zu haben, was
uns von unseren nächsten tierischen Verwandten, den Menschenaffen,
unterscheidet: unsere weitaus stärker ausgeprägten kognitiven Fähigkeiten. Sie
ermöglichen es uns, vorausschauend zu denken und bestimmte Vorstellungen davon
herauszubilden, wie sich ein in uns spürbar werdendes Bedürfnis stillen lässt.
Wer keine lebendigen Bedürfnisse mehr hat, wird
sich nicht wehren, wenn von ihm verlangt wird, genauso effizient wie ein
digitales Gerät zu funktionieren.
Diese Überlegungen setzen automatisch ein, sobald ein solches Bedürfnis
entsteht. Falls sich die ausgedachte Strategie auf Dauer dafür doch nicht
eignet, erwacht das betreffende Bedürfnis erneut und zwingt uns, nach einem
besseren Weg zu suchen. So kann jeder Mensch eine neue Vorstellung nach der
anderen entwickeln, bis er irgendwann zu der Erkenntnis gelangt, dass seine
Bedürfnisse aus seiner eigenen Lebendigkeit erwachsende Botschaften sind, die
ihn auffordern, dieses Lebendige in sich zu bewahren und ihm durch die Art und
Weise, wie er mit sich selbst und allem Lebendigen umgeht, Ausdruck zu
verleihen. Dazu bedarf es keiner besonders ausgeklügelten Vorstellung, das
brauchen wir einfach nur zu tun. Zum Beispiel, indem wir etwas liebevoller mit
uns selbst umgehen.
Das aber fällt den meisten Menschen gegenwärtig noch sehr schwer. Zu
fest hat sich in ihren Gehirnen die Vorstellung eingegraben, alle Probleme
dieser Welt liessen sich mit dem nackten Verstand lösen. Das war das Credo, mit
dem das Zeitalter der Aufklärung seinen Siegeszug vor nun schon über dreihundert
Jahren angetreten hatte. Die wissenschaftlich-technischen Errungenschaften, die
durch den Einsatz des nackten Verstandes in diesem Zeitraum hervorgebracht
wurden, sind so beeindruckend und so bestimmend für unser heutiges Leben
geworden, dass es eine naheliegende Versuchung war, die kognitiven Fähigkeiten
des Menschen in den Mittelpunkt unseres eigenen Selbstverständnisses zu
stellen.
Fatale Sackgasse
Erst jetzt, angesichts der wachsenden Probleme auf der Welt, wird
offenbar, dass wir mithilfe unseres nackten Verstandes nicht nur viele Probleme
lösen, sondern auch sehr viele bisher nicht da gewesene Probleme erzeugen
können. Anstatt uns immer stärker mit allem Lebendigen zu verbinden, hat uns
der Einsatz unserer kognitiven Fähigkeiten immer stärker von allem Lebendigen
getrennt.
Wir können inzwischen auf den Mond und womöglich bald auch auf den Mars
fliegen und haben Computer erfunden, die viele unserer kognitiven Leistungen,
sogar unsere Lernfähigkeit weit übertreffen. Aber wir schauen rat- und tatenlos
zu, wie jeden Tag unvorstellbar viele Menschen verhungern, immer mehr Arten
aussterben, Kriege angezettelt, Urwälder und Landschaften zerstört werden – das
alles und noch viele andere lebensbedrohliche Entwicklungen verdanken wir dem
Einsatz der kognitiven Fähigkeiten von Menschen. Offenbar hat uns die
Vorstellung, mit dem nackten Verstand liessen sich alle Probleme dieser Welt
lösen, in eine fatale Sackgasse geführt.
Unser Verstand ermöglicht es uns, Vorstellungen davon herauszubilden,
wie etwas gemacht werden muss, damit es zu dem gewünschten Ergebnis führt. Aber
er versagt kläglich, wenn es darum geht, unsere lebendigen Bedürfnisse zu
stillen. Statt mit unseren Vorstellungen davon, was auf welche Weise zu machen
ist, müssten wir uns wieder mit unserer eigenen Lebendigkeit verbinden, mit
unserer Entdeckerfreude und unserer Gestaltungslust, mit unserer Sinnlichkeit
und unserem Körperempfinden, auch mit unserem Bedürfnis nach Zugehörigkeit und
Geborgenheit im Zusammenleben mit anderen. Dann könnten wir endlich auch all
das wiederfinden, was wir ja alle bereits mit auf die Welt gebracht haben und
zumindest eine Zeitlang erlebt hatten, als wir noch kleine Kinder waren.
Auf Distanz
Genau das ist die entscheidende Frage, die es jetzt möglichst schnell
von uns allen – von den Befürwortern wie auch von den Gegnern der
Corona-Massnahmen – zu beantworten gilt. Sonst werden wir nicht verhindern
können, dass eine Generation von Heranwachsenden bereits von Kindesbeinen an
lernt, ihre lebendigen Bedürfnisse zu unterdrücken, um den Vorstellungen zu
folgen, die wir Erwachsenen für richtig halten, um ein möglichst langes und
gesundes Leben führen zu können.
Ja, es stimmt, dieses ansteckende Virus breitet sich immer weiter aus
und ist eine grosse Gefahr für alle, die daran erkranken, vor allem dann, wenn
es zu einer Überlastung unserer Intensivstationen kommt. Aber es stimmt auch,
dass die in diese neue, von Corona-Abwehrmassnahmen bestimmte Lebenswelt
hineinwachsenden Kinder und Jugendlichen gezwungen sind, ihre lebendigen Bedürfnisse
zu unterdrücken. Sie wollen ja dazugehören, wollen ihren Eltern, Erziehern und
Lehrern alles recht machen, wollen Verantwortung übernehmen, wollen andere
nicht gefährden – und deshalb setzen sie ihre Schutzmasken auf, halten Abstand,
spielen nicht mehr mit ihren Freunden und folgen zu Hause dem
Online-Unterricht, wenn die Schule wegen der Corona-Pandemie geschlossen ist.
Von begeisterten Eltern und Lehrern und sogar in den Medien werden sie als
besonders vorbildlich gelobt, weil sie so «vernünftig» sind.
Wer aber fragt danach, was diese Kinder mit ihren lebendigen
Bedürfnissen machen, damit sie so vernünftig sein können? Sie müssen sie
unterdrücken. Neurobiologisch betrachtet, geht das nur, indem die für die
Entstehung dieser Bedürfnisse zuständigen Bereiche und Netzwerke in ihrem
Gehirn mit hemmenden Nervenzellverschaltungen überbaut werden. Das ist eine
schwierige Lernleistung, die unsere Kinder da vollbringen, weil sie nicht ihrer
Natur entspricht. Deshalb dauert es ein wenig, bis sie fest genug im Gehirn
verankert ist. Aber die meisten schaffen das.
Dann ist das Bedürfnis, mit anderen zu spielen, weggehemmt, auch jenes,
die Grossmutter zu besuchen und mit ihr zu kuscheln, Freunde zu treffen, zu
toben, ein Kämpfchen zu wagen – alles weg. Sogar ihre angeborene Freude am
eigenen Entdecken und am gemeinsamen Gestalten ist dann verschwunden. Auch jene
am gemeinsamen Tanzen, Singen, Musizieren, am Fussballspielen und Herumtoben.
Eine Theatervorführung oder ein Konzert wollen solche Kinder dann auch nicht mehr
besuchen.
Brav funktionierend
Aber die Erwachsenen freuen sich darüber, wie brav das Kind alle
Anweisungen befolgt und die entsprechenden Vorschriften einhält. Es hat perfekt
gelernt, genau so zu funktionieren, wie sie es von ihm erwarten. Die Gefahr ist
deshalb sehr gross, dass diese Kinder den digitalen Geräten immer ähnlicher
werden, die in dieser Corona-Zeit besonders schnell in ihre Lebenswelt
vordringen und ihren Alltag bestimmen. Diese digitalen Geräte können ja auch
nur deshalb so perfekt funktionieren, weil sie keine Bedürfnisse haben.
Was den Erfolg und die rasche Ausbreitung technischer Innovationen
ermöglicht, ist genau das Gegenteil von dem, was für Viren gilt. Die
fortschreitende Digitalisierung bietet eine Vielzahl bisher unvorstellbarer Möglichkeiten,
unser Leben zu erleichtern, stupide Tätigkeiten an Roboter abzugeben, komplexe
Prozesse digital zu steuern, uns jederzeit problemlos auszutauschen und unser
Zusammenleben reibungsloser zu gestalten als bisher.
Ich bin siebzig. Ein Jahr im Leben eines
Siebenjährigen entspricht zehn Jahren in meinem Alter.
Im Gegensatz zu einer Viruspandemie bleiben die negativen Auswirkungen
der Ausbreitung digitaler Technologien sehr lange unbemerkt. Dazu zählt nicht
nur all das, was uns von dem abtrennt, was unser lebendiges Menschsein ausmacht
und uns von der Wahrnehmung und der Stillung unserer lebendigen Bedürfnisse
abhält, sondern auch all das, was uns dazu verführt oder gar zwingt, unsere
Lebensgestaltung an die Funktionsweise, die Programme und die Algorithmen
digitaler Geräte anzupassen.
Wer noch Zugang zu seinen lebendigen Grundbedürfnissen hat und noch mit
all seiner Entdeckerfreude und Gestaltungslust, mit seiner Freude am
Sichbewegen und am Tätigsein, auch mit seinen körperlichen Bedürfnissen und
seiner Sinnlichkeit verbunden ist, wird nicht in Gefahr geraten, sich in den
virtuellen Welten digitaler Geräte zu verlieren. Der wird sich auch mit aller
Kraft gegen die von digitalen Programmen gesteuerte Lenkung und Überwachung
seiner Aktivitäten zur Wehr setzen.
Kinder können das noch nicht, und sie haben keine Lobby, die sie vor
digital gesteuerter Lenkung, Kontrolle und Überwachung schützt. Die
Erfahrungen, die wir unseren Kindern gegenwärtig mit den staatlich verordneten
Massnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie zumuten, zwingen sie zur
Unterdrückung ihrer lebendigen Bedürfnisse, bevor sie beim Heranwachsen selber
lernen konnten, wie sich diese Bedürfnisse stillen lassen. Damit machen wir die
Kleinsten in unserer gegenwärtigen Gesellschaft zu den grössten Verlierern
dessen, was uns als Menschen von den digital gesteuerten Automaten und Robotern
unterscheidet. Wer keine lebendigen Bedürfnisse mehr hat, ist gefügig geworden
und wird sich nicht mehr wehren, wenn von ihm verlangt wird, genauso perfekt, fehlerfrei
und effizient wie ein digitales Gerät zu funktionieren.
Zur Besinnung kommen
Es wäre also höchste Zeit, zur Besinnung zu kommen und uns gemeinsam um
das Wohl unserer Kinder und Jugendlichen zu kümmern. Sie sind die Gestalter
unserer Zukunft. Es ist nicht nur unverantwortlich, unsere Angst vor diesem
Virus auf sie zu übertragen und sie zur Sicherung unserer Gesundheit und
unseres Wohlergehens einzusetzen. Es ist auch selbstzerstörerisch und
lebensfeindlich. Denn unsere Kinder sind diejenigen, von denen wir am
allerbesten wieder lernen könnten, wie lustvoll und wie beglückend es ist, auch
noch als Erwachsene richtig lebendig zu sein.
Deshalb mein Weihnachtswunsch: Machen Sie Weihnachten in diesem Jahr zu
einem Fest für die Kinder. Schenken Sie ihnen ein paar Tage, um endlich wieder
so leben zu können, wie es ihrer Natur und ihren Bedürfnissen entspricht.
Spielen Sie mit ihnen, tanzen, singen, musizieren Sie mit ihnen, bauen,
basteln, malen Sie mit ihnen, gehen Sie raus in die Natur und zeigen Sie ihnen,
was es dort sogar im Winter alles zu entdecken gibt. Machen Sie all das, was
die Entdeckerfreude und die Gestaltungslust Ihrer und unserer Kinder wieder
weckt.
Ich bin jetzt fast siebzig. Für ein Jahr die verordneten
Corona-Massnahmen zu befolgen, verändert nicht allzu viel in meinem Gehirn.
Aber ein Jahr im Leben eines Siebenjährigen entspricht zehn Jahren in meinem
Alter. Das bleibt nicht folgenlos, auch wenn wir uns das noch so sehr wünschen.
Wenn Kinder nur eine Woche lang ihre lebendigen Bedürfnisse wieder stillen
können, ist das so, als würde mir das in meinem Alter zehn Wochen lang
ermöglicht. Sie können es ja zumindest über die Feiertage einmal versuchen. Die
Kinder in ihrer ganzen unbekümmerten Lebendigkeit zu erleben, ist
wahrscheinlich das schönste Geschenk, das Sie sich in dieser schwierigen Zeit
zu Weihnachten machen können.
Gerald
Hüther ist Professor für Neurobiologe an der Universität Göttingen und Vorstand
der Akademie
für Potenzialentfaltung. Kürzlich sind erschienen: «Wege aus
der Angst – Über die Kunst, die Unvorhersehbarkeit des Lebens anzunehmen»
(Vandenhoeck & Ruprecht) und «Was schenken wir unseren Kindern?» (mit Andre
Stern, Patmos, 2019).
Hüthers Vorbehalte gegenüber unserem Verstand klingen verdächtig. Will er zurück in die Steinzeit oder höre ich da leise Rousseaus verlockenden Sirenengesang?
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