Der viel zitierte Bildungsartikel in der Bundesverfassung verlangt
folgendes:
2 Sie sorgen für einen ausreichenden
Grundschulunterricht, der allen Kindern offen steht. Der Grundschulunterricht
ist obligatorisch und untersteht staatlicher Leitung oder Aufsicht. An
öffentlichen Schulen ist er unentgeltlich.2
3 Die Kantone sorgen für eine ausreichende
Sonderschulung aller behinderten Kinder und Jugendlichen bis längstens zum
vollendeten 20. Altersjahr.3
4 Kommt auf dem Koordinationsweg keine
Harmonisierung des Schulwesens im Bereich des Schuleintrittsalters und der
Schulpflicht, der Dauer und Ziele der Bildungsstufen und von deren Übergängen
sowie der Anerkennung von Abschlüssen zustande, so erlässt der Bund die
notwendigen Vorschriften.4
6 Bei der Vorbereitung von Erlassen des Bundes,
welche die Zuständigkeit der Kantone betreffen, kommt der Mitwirkung der
Kantone besonderes Gewicht zu
Da steht nichts Revolutionäres. Die Bestimmungen leuchten ein und waren
folglich nie umstritten. Darum wurde der Verfassungsartikel im Jahre 2006 mit
überwältigendem Mehr vom Volk gutgeheissen. Verlangt wird die Harmonisierung
unseres Schulwesens, die Angleichung der Bildungsziele, und weitere,
hauptsächlich administrative Massnahmen.
Der Reformlobby schien das alles aber allzu dürftig. Absatz 4 (fett) wird
nun dazu missbraucht, zusätzliche Begehrlichkeiten als Forderungen aus dem
Bildungsartikel darzustellen. Hinweise auf den Verfassungsartikel zur
Begründung des kompetenzorientierten Lehrplans 21, der
Frühfremdsprachenregelung und der flächendeckenden Integrationsbestrebungen
sind als Killerargumente zur Ausschaltung gegnerischer Kritik gedacht und in den
Medien gang und gäbe.
Mit "Killerargumenten" aus der Trickkiste gegen Reformkritiker, Südostschweiz-Blog, 7.6. von Fritz Tschudi
Nur: Im Bildungsartikel findet sich keine Forderung nach einem neuen
kompetenzorientierten Lehrplan (LP21). Ebenso wenig ist dort die Rede von zwei
Fremdsprachen auf der Primarstufe. Selbst vom heute quasireligiösen Gebot der
schulischen Integration (Inklusion statt Sonderschule), dem Bekenntnis zur
Heterogenität als Basis für den individualisierten Unterricht, unter dem Dogma
der Selbststeuerung und Selbstorganisation der Schülerinnen und Schüler, ist im
Bildungsartikel kein Wort zu finden.
Es handelt sich also um bewusste Falschdarstellungen.
Wegen dem Erstarken von diktatorisch anmutendem, demokratisch
fraglichem Gebaren einflussreicher Propagandisten, standen manche
Projekte der letzten 15 Jahre unter einem schlechten Stern. Statt der viel
gerühmten Offenheit dominierte rasch umfassende Intransparenz. Die Arbeit
der EDK und der Projektgruppen wurden folglich abgeschottet, ins stille
Kämmerlein verbannt und die Teilnehmenden der Schweigepflicht unterstellt.
Damit wurde die Teilhabe der direktdemokratischen Öffentlichkeit, insbesondere
jene der direkt betroffenen Lehrer und der Eltern vorsorglich verhindert. In
aller Klarheit wurde signalisiert: Die Reformen werden von oben bestimmt, die
Mitsprache des Volkes ist unerwünscht.
Um vor groben Irrtümern zu schützen, müssten wissenschaftlich fundierte
Grundlagen die Reformdebatten prägen. Ärgerlich für die Reformer ist aber der
ausgeprägte Mangel an qualitativ überzeugenden Studien. Leider gewinnt man den
Eindruck, dass der Sinn mancher Arbeiten im Bildungsbereich allein darin
besteht, eine vorgegebenen Ideologie (Zeitgeist) zu präsentieren und dieser zur
gesellschaftlichen Akzeptanz zu verhelfen.
Nicht nur die Kompetenzorientierung im Lehrplan 21 ist wissenschaftlich
ungeklärt. Ein weiteres Kampffeld ist die Fremdsprachenregelung auf der
Primarstufe.
Nun hat eine sehr hochwertige, als „outstandig“ eingestufte Studie von Dr. Simone Pfenninger,
Linguistin an der Uni Zürich, das bisherige Dogma, wonach die beste Wirksamkeit
des schulischen Fremdsprachenlernens in einem möglichst fruhen Beginn liege,
klar und deutlich widerlegt.
Nicht alle Verfechter des frühen Fremdsprachenlernens sind aber gute
„Verlierer“. Studien, welche den Erwartungen der politisch Verantwortlichen
nicht entsprechen, wurden schon bisher möglichst ausgeblendet. Schon aufgrund
der anerkannten wissenschaftlichen Qualität der Arbeit von Pfenninger verbietet
sich ein Schnellschuss aus dem „Hinterhalt“. Wie tief muss der Schock sitzen,
wenn sich ein Erziehungschef dazu hinreissen lässt, die Studie in einem
unwürdigen und arroganten Abwehrreflex als minderwertig zu diffamieren?
Was Christoph Eymann, der Basler
Erziehungschef und Präsident der EDK von dieser Studie hält, und wie ihn
Pfenninger und manche Zeitungskommentare umgehend kontern, kann hier in vielen Beiträgen nachgelesen werden.
Wehren wir uns gegen das Abgleiten in die
Gesinnungsdiktatur!
Kritische Fragensteller zu Schulreformen dürfen nicht länger als lästige
Störenfriede neutralisiert werden. Gegenseitiger Respekt eröffnet die Chance
auf die Wiederkehr der gehaltvollen öffentlichen Debattenkultur. Eine
Podiumsdiskussion vom 12.5.2016 im Rahmen des Wissenschaftscafés im
B12 in Chur zeigte wie’s geht: Unter dem Thema„Zweitsprachen in der
Volksschule – Chance oder Überforderung?“moderierte der Rektor der PHGR, Dr.
Gian-Paolo Curcio eine hochkarätige internationale Runde, eine
Mischung aus aktueller Wissenschaft, Lehrerbildung und Praxiserfahrung. Das
zahlreich erschienene Publikum war sichtlich angeregt und beteiligte sich
lebhaft.
Dr. Henriette Dausend, Juniorprofessorin
Grundschuldidaktik Englisch, TU Chemnitz äusserte sich zu den Vorzügen des
frühen Fremdsprachenlernens und der Frage der Überforderung, während sich die
bereits oben erwähnte Dr. Simone E. Pfenninger,
Oberassistentin English Departement, Universität Zürich dezidiert auf der Basis
ihrer Forschungsarbeit dagegen aussprach. Urs Kalberer, MEdSprachdidaktiker,
Sekundarlehrer und bekannter Bildungsblogger sah die Dinge in
Übereinstimmung mit Pfenninger aufgrund seiner reichen Praxiserfahrung als
Sprachlehrer. Dr. Vincenzo Todisco, Dozent Didaktik der
Mehrsprachigtkeit, PHGR, setzte sich engagiert für die Pflege der
Mehrsprachigkeit gerade im dreisprachigen Kanton Graubünden ein.
Die Anwesenheit von Sachlichkeit, Kompetenz und Engagement überzeugte.
Umso dringlicher stellt sich mir die Frage, warum ausgerechnet die
Lehreraus- und Weiterbildung auf die animierende Kraft der Kontradiktion im
Kreise ausgewiesener Fachleute verzichten muss. Der Grund ist wohl dem
Selbstverständnis der damit betrauten Institutionen zuzuschreiben: Instruktion
und Kontrolle zielen auf gehorsame Umsetzung und weniger auf fachliche
Mündigkeit.
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