Alain Pichard kämpft gegen den Lehrplan 21. Im Interview nimmt er Stellung.
"Ein Singbuch singt auch nicht von allein", BielBienne, 12.5. von Hans-Ueli Aebi
BIEL
BIENNE: Sie gehören zu den prominentesten Kritikern des Lehrplanes (LP) 21 für
die Deutschschweiz. Warum sträuben Sie sich gegen Neuerungen?
Alain
Pichard: Kritik heisst nicht in erster Linie, gegen etwas zu sein, sondern
vielmehr zu prüfen, ob die Gründe für Behauptungen gute Gründe sind. Und bisher
wollte mir niemand erklären, weshalb plötzlich sämtliche Lerninhalte
kompetenztheoretisch erfasst werden sollen. Unter den Kritikern befinden sich
nicht nur Konservative sondern auch zahlreiche Gemässigte und Progressive.
Sie
haben mit zahlreichen Mitautoren die Publikation «Einspruch» verfasst,
kritische Gedanken zu Bologna, Harmos und Lehrplan 21. Eben ist die 4. Auflage
erschienen. Überrascht?
Über 30
Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Praxis, Politik, Kultur, darunter der Autor
Peter Bieri (Nachtzug nach Lissabon, Anm. d. Red.) und die Basler Ständerätin
Anita Fetz haben die aktuellen Schulreformen kritisiert. Gestern wurde das
zehntausendste Exemplar verkauft!
In der
Westschweiz scheint der neue Lehrplan recht gut zu funktionieren ...
Der
interkantonale Vergleich der PISA-Untersuchungen 2012 hat gezeigt, dass die
Romands im Kanton Bern die drittletzte Position belegten. Schlechter waren nur
noch die Kantone Genf und Tessin. Genf hat übrigens eine dreimal so hohe
Jugendarbeitslosigkeit wie der Kanton Thurgau. Zentralisierte Schulsysteme mit
Kompetenzorientierung erzielen überall die schlechteren Resultate als
föderative Schulsysteme. In Frankreich tobt derzeit eine heftige
Auseinandersetzung über die Kompetenzorientierung, wie sie der LP 21 vorsieht.
Angeblich
wurden Schulleitungen und Lehrer in die Aus- und Überarbeitung des LP 21
einbezogen. War das wirklich so?
Der
Lehrplan wurde abgeschottet von der Öffentlichkeit ausgearbeitet. Die Mitwirkenden
mussten eine Schweigeerklärung unterschreiben. Wir möchten schon lange wissen,
wer da mitgewirkt hat. Diese Geheimnistuerei ist auch ein Grund dafür, weshalb
sich der Widerstand erst relativ spät formieren konnte.
Der
Berner Bildungsdirektor Bernhard Pulver präsentierte im März die Einführung des
LP 21. Ein paar Stunden mehr Deutsch und Mathematik. Pulver betonte, am «Inhalt
ändert sich fast nichts» und der LP lasse den Schulen «viele Freiräume». Ist
das glaubwürdig?
Gegenfrage:
Warum gibt man fünf Millionen Franken für die Erarbeitung eines Lehrplans aus
und noch mal soviel für die Weiterbildungskurse, wenn sich nichts ändert? Die
Widersprüche sind stupend: Die Zürcher Ex-Regierungsrätin Aeppli spricht von
einem Jahrhundertwerk, das die Schule entscheidend verändern wird, Professor
Reusser aus Zürich von einem massiven Paradigmenwechsel und Herr Pulver meint, es
ändere sich gar nichts. Alle waren sie Mitglieder der Lehrplankommission.
Pulvers Rhetorik ist reine Durchsetzungsstrategie.
Früher
mussten Schüler vor allem Vokabeln, Berggipfel oder Jahreszahlen auswendig
lernen, was viele als sinnlos erlebten …
Wenn
man keine überzeugenden Argumente fürs Neue hat, diffamiert man einfach das
Alte. Der heutige Unterricht ist viel variantenreicher und innovativer als es
uns die Lehrplanbefürworter glauben lassen wollen.
Vom
eindimensionalen Frontalunterricht zum selbstgesteuerten Lernerlebnis – vom
Schulmeister zum Lerncoach – vom oft nutzlosen Wissen zum anwendbaren Können.
Der Paradigmenwechsel erscheint zweckmässig und zeitgemäss. Pulver betonte
auch, die Kompetenzorientierung sei «nichts Neues».
Herr
Pulver spricht von jenen Kompetenzen, wie sie im alten Lehrplan schon vorhanden
waren. In Tat und Wahrheit aber geht es im LP 21 um Kompetenzen, wie sie im
Weissbuch der Konferenz der Erziehungsdirektoren 2004 formuliert sind. Da geht
es um Anwendung, Vergleichbarkeit und Messbarkeit. Im Prinzip machen wir aus
der Volksschule, wo es um Bildung geht, eine Berufsschule, wo es um Ausbildung
geht.
Der
Lehrplan umfasst 363 Kompetenzen und 2304 Kompetenzstufen. Was ist an der
Schülerbeurteilung aus Ihrer Sicht problematisch?
Soziale
Kompetenzen wie «Umgang mit Vielfalt» oder «ist in der Lage, Gefühle
situationsgerecht auszudrücken» sollen auf einer Skala von 1 bis 10 beurteilt
werden. Wie zum Geier soll ein Lehrer so etwas «messen»? Lars Burgunder, ein
junger mutiger Lehrer mit Bieler Wurzeln, brachte diesen Blödsinn an die
Öffentlichkeit, worauf die Erziehungsdirektion einen Rückzieher machte.
Früher
stand im Zeugnis zum Beispiel: Deutsch: 5, Mathematik: 4,5, Naturkunde: 5,5.
Betragen: befriedigend. Mehr erfuhr man nicht über den Schüler. Es ist doch
nützlich, wenn Leser eines Zeugnisses wissen, mit wem sie es zu tun haben?
Wie
soll man «Höflichkeit» auf einer Skala von 1 bis 10 beurteilen? Ist ein Schüler
unhöflich, weil er mal einen schlechten Tag hat oder mit dem Lehrer
grundsätzlich nicht so gut auskommt? Höflichkeit oder Fleiss sind Momentaufnahmen,
die sich immer wieder ändern, das sind Fragen des Charakters. Gibt es
diesbezüglich Probleme mit Schülern, dann sprechen wir diese an und handeln wo
nötig. Aber das gehört nicht in einen Beurteilungsbericht. Die meisten
Lehrmeister lassen ihre Lehrstellenanwärter schnuppern. Das ist zuverlässiger
als ein Kreuzchen bei der Zahl «5» unter der Rubrik «Höflichkeit».
Kein
gutes Haar lassen Kritiker an der «Outputoptimierung» und «Testkultur». Es ist
doch gut zu wissen, was die Schüler zu leisten im Stande sind?
Tests
müssen ständig weiterentwickelt werden. Sonst stellen sich Lehrer und Schüler
darauf ein. PISA hat gezeigt, wohin das führt: Rankings, Hysterie und
Aktionismus. Die Gefahr besteht, dass die Lehrkräfte künftig vor allem für die
Tests arbeiten.
Sehen
Sie beim LP 21 auch positive Elemente?
Es war
eine gute Idee, Schulstrukturen und Inhalte über die Kantonsgrenzen hinaus zu
harmonisieren. Schade, dass hohe Bildungspolitiker dies zum Freipass für
Gleichschaltung, Steuerungs- und Kontrollwahn nutzen wollen.
Die IG
für eine Starke Volksschule im Kanton Bern hat die Initiative «Lehrpläne vors
Volk» lanciert. Bringt das etwas?
Man
wollte dieses Reformwerk ohne den Einbezug der Direktbetroffenen, also der
Eltern und Lehrkräfte von oben herab verfügen. So entstand – reichlich spät
zwar – die notwendige Diskussion, der die Befürworter des LP 21 ständig
ausweichen.
Die
Arbeiten sind weit fortgeschritten, im Kanton Bern soll der LP 21 ab August
2018 eingeführt werden. Wie ändert sich der Schulalltag für die Schüler?
Wenn
der Lehrplan mit all seinen Facetten so umgesetzt wird, führt das zu einem
monotonen, mit Arbeitsblättern gesteuertem Unterricht. Kompetenzstufe erreicht,
Kleber drauf und ab zum nächsten Kompetenzziel. Und die schwächeren Schüler
kommen unter die Räder.
Was
ändert sich für die Lehrer?
Guter
Unterricht ist angewiesen auf innovative Lehrkräfte, die begeistern können.
Dazu brauchen sie Freiheiten beim Einsatz ihrer Lehrmittel und kein Kontroll-
und Steuerungsmonster, wie es der LP 21 darstellt. Es sind die Lehrer und ihre
Schüler, welche Lerninhalte mit Leben füllen, ein Singbuch singt schliesslich
auch nicht von allein!
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