14. Mai 2016

Avanti dilettanti

Chère Yael, ich habe Deine Meinung über das Lehrmittel für Französisch «Mille Feuilles» in der «Volksstimme» gelesen und teile sie voll und ganz. Ich freue mich, dass Du so offen darüber geschrieben hast. Félicitations! Es müsste eigentlich «Bonjour Tristesse» heissen, denn es verlangt von den Lehrkräften fast geniale pädagogische Fähigkeiten, wenn für Kinder etwas Vernünftiges herausschauen soll. 
"Bonjour Tristesse" statt "Mille Feuilles", Volksstimme, 12.5. Leserbrief von Thomas Schweizer



«Envol» kenne ich nur oberflächlich, aber es gab mal das moderne Lehrmittel «Bonne Chance», didaktisch klug aufgebaut und von zwei Familien in der Suisse romande erzählend, mit ganz normalen Alltagssituationen und entsprechender Sprache «aus dem Leben gegriffen». Szenen, die sehr kinderfreundlich aufgemacht waren und dennoch den grammatikalischen Aufbau, den Sprachduktus und das Vocabulaire nicht vernachlässigend. Alles unabdingbar für das Eintauchen in eine andere Sprache. Dazu gehört natürlich auch das unerlässliche ständige Üben. Das ist heute nicht mehr so gefragt, weil mit Arbeit und Durchhaltewille verbunden. Keine Ahnung, was Pädagogen bewogen hat, dieses Lehrmittel wieder verschwinden zu lassen. Es waren undurchsichtige Gründe, die ein einfacher Citoyen und ancien prof für Französisch wie ich halt nicht begriffen habe. Ohnehin bin ich der Meinung, dass Fremdsprachen nur von Fachlehrkräften mit mehrjähriger Ausbildung erteilt werden dürften. Alles andere gehört ins Kapitel «Avanti dilettanti». Das ist Italienisch und keine Fremdsprache, sondern eine weitere Landessprache. Wie Französisch auch. Darum müssen wir unsere Landessprachen pflegen. Technokraten sagen uns zwar immer, Englisch sei halt leichter und wichtiger. Beides stimmt nicht, denn die vielen englischen Begriffe in unserem Alltag sind trügerisch, und Englisch wirst Du später noch genug lernen können. Wichtig aber ist, dass jedes Deutschschweizer Kind fähig sein muss, mindestens zwei Landessprachen (die Muttersprache Deutsch und eine andere) verstehen und sprechen zu können. Auch im Fach Deutsch hapert es oft. Und ob «Mille Feuilles» für Französisch geeignet ist? J’en doute. Liebe Yael, ich habe selber drei Cousins in der Westschweiz, und meine Liebe zu diesem Landesteil ist und bleibt ungebrochen hoch, so hoch wie der Jet d’eau à Genève. Unser Land ist mit seiner Viersprachigkeit einfach einzigartig. Dieses Kapital geben wir nie und nimmer preis. Lass Dir darum «la joie de vivre» durch dieses Lehrmittel nicht vermiesen. «Impossible n ’est pas français.» Mach das Beste draus und erfreue Dich quand même an unserer schönen französischen Sprache. Sie ist für viele nicht ganz einfach, zugegeben, aber allen rufe ich zu: «Du courage!»

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