31. August 2015

Die Parabel von Sandra und Regula

Sandra* habe ich immer gemocht. Sie war eine tadellose Linke. Vor über 30 Jahren organisierten wir mit 20 VPOD-Aktivisten eine Demo im bernischen Grossen Rat, um für die Bildungsinitiative "Schulmodell 6/3"  zu werben. Wir trugen alle ein T-Shirt mit einem Buchstaben drauf, das wir aber unter unseren Jacken versteckten. Mitten in der Debatte standen wir auf und zogen unsere Übergewänder aus. Die Überraschung war total. Das Bild ging durch die Presse. Junge Lehrer auf der Tribüne des Grossen Rates bildeten mit ihren Leibern ein lebendes Transparent: VPOD für das 6/3-Modell!
Die Parabel von Sandra und Regula, Bieler Tagblatt, 31.8. von Alain Pichard


Die Aufregung im Saal war gross. "Respektlos", "unanständig", das waren noch die harmlosesten Worte, die uns von unten heraufgepfeffert wurden. Der Ratspräsident wies uns aus dem Saal und wir verzogen uns in die Beiz. Wir freuten uns diebisch über die Reaktionen und alle waren sehr zufrieden mit sich und der Welt. Dazu gewannen wir noch ein paar Wochen später die Abstimmung, verloren aber Sandra. Die ausgebildete Sekundarlehrerin verliess den Schulbetrieb und stieg in die Bildungsverwaltung ein, sorgte für die Umsetzung des 6/3 Modells, und ist heute verantwortlich für die Einführung von Frühfranzösisch und den Lehrplan.
In letzterer Funktion organisiert sie die Einführungskurse für die SchulleiterInnen im Kanton Bern. Und an einem dieser Kurse begegnete sie Regula*.
Regula kenne ich erst seit Kurzem. Sie ist fünffache Mutter, sie ist jung,  religiös und konservativ. Regula wohnt im Oberland und ist gegenüber dem neuen Lehrplan sehr skeptisch. Ihre Kinder fühlen sich in der Schule nicht wohl, und sie möchte etwas dagegen tun. Sie sagt sich: Ich habe zu einem einheitlichen Schulbeginn und einer Harmonisierung der Bildungsstufen JA gesagt. Aber ich habe nicht JA gesagt zu Standardisierung, Normierung und Testerei, zu Frühfranzösisch, zu einer neuen Fremdsprachendidaktik, zu Lernlandschaften und zu Lehrkräften, die nur noch Lernbegleiter sein sollen.
Sie liest, schreibt, telefoniert und blitzt bei den Behörden ab. Von der Schulleitung wurde ihr beschieden, dass sie sich nicht querstellen solle. Jetzt möchte Regula, die inzwischen in einer lehrplankritischen Elternvereinigung wirkt, wirklich etwas tun. Sie entwirft ein Flugblatt und verteilt dieses mit zwei weiteren Müttern in Lyss, vor dem Gebäude, in welchem die Schulleiter von Sandra über den neuen Lehrplan informiert werden sollen.
Als Sandra die jungen Mütter sieht, ist sie zuerst sehr traurig. Dann wütend: "Unanständig", "keine Bewilligung", meint sie. Sandra holt als Verstärkung einen Mann, einen Schulinspektor. Dieser weist die Frauen freundlich aber bestimmt vor die Türe. Drinnen im Saal sagt er den Anwesenden ziemlich entnervt: "Das Papier können Sie als Notizpapier brauchen."
Regula und ihre Frauen verziehen sich in eine Beiz und freuen sich diebisch über die Reaktionen und sind  zufrieden mit sich und der Welt. "Es war der Hammer", schrieb sie mir, "so viel Aufregung wegen eines Flugblatts!" Ob Sie allerdings eine allfällige Abstimmung über den LP21 gewinnen wird, wie wir damals, darf bezweifelt werden. Denn sie ist ja eine Konservative. Darauf setzt auch Sandra mit der simplen Rechnung: "Wenn Konservative gegen den Lehrplan sind, muss dieser ja progressiv sein!"

Natürlich wird Regula diese Aktion wiederholen. Allerdings wird sie sich nun vorher anmelden. Sie ist ja ein wesentlich höflicherer Mensch, als wir damals waren! 
*Namen geändert

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