"Es braucht Lehrerinnen, die Hebamme und Stechfliege zugleich sind", Bild: Wikipedia
Wie Sokrates heute lehren würde, Journal 21, 28.8. von Carl Bossard
Lernen ist
mehr als das Aufnehmen von Informationen. Es ist ein Prozess, in dem Wissen
durch eigene Aktivität und eigenes Denken erworben wird.
Eine neue
Lernkultur sieht die Lehrerin primär als Lernbegleiterin, den Lehrer als Coach:
Schülerinnen und Schüler lernen individuell oder in Gruppen. Angesagt ist
selbstorientiertes Arbeiten, gefordert Lernen ohne Lehrer. Grund genug zu
fragen, was wäre, wenn Sokrates heute zur Schule ginge. Die Frage beunruhigt.
Learning
Faciliator
Verantwortung
in Schulen wird heute am liebsten delegiert: vielfach nach oben, oft zur Seite,
zunehmend auch nach unten. Die Verantwortung fürs Lernen trügen die
Schülerinnen, sie liege bei den Schülern, postuliert man. Sie regulierten ihre
Lernprozesse selber und autonom. Arbeitsblätter sollen es richten,
Lernarchitekturen sind das Zauberwort. Die Lehrerin wird bei Bedarf zu Hilfe
geholt. Die Konsequenz: Der Lehrer mutiert zum Learning Faciliator.
Dabei spricht
die Forschung über guten Unterricht eine andere Sprache. Effiziente
Schulstunden sind mehr als Regieanweisung und eigengesteuertes Arbeiten, mehr
als eine Unterrichtsform des selbständigen Lernens mit einem Lehrer als Lernbegleiter.
(1) Wenn Schule wirken will, braucht es eine wirksame Lehrperson, die
Verantwortung übernimmt, sich engagiert und leidenschaftlich handelt – und so
ansteckend wirkt. „The ethical teacher has a central role to play",
schreibt der neuseeländische Schulforscher John Hattie in seiner Studie
„Visible Learning“: aktiv und lenkend, mit gezielten Fragen und Feedbacks, mit
einer hohen Verantwortungsethik in einem lernförderlichen Klima.
Die Welt
aufschliessen
Ein solcher
Lehrer war vermutlich Sokrates: ein Meister des Denkens, ein Künstler des
Gedankens, ein Virtuose des Fragens. Unbequem und doch nachsichtig,
unnachgiebig und heiter zugleich muss er gewesen sein, der grosse griechische
Philosoph. Vor über zweieinhalb Jahrtausenden streifte er durch die Gassen und
Winkel Athens. Den Stadtbewohnern brachte er das Fragen wieder bei: das
Zutrauen zu dem, was sie selber von der Welt sehen und verstehen konnten, gegen
das Scheinwissen und gegen die Fülle vorgegebener Weisheit – alter und neuer,
wie Hartmut von Hentig einmal schrieb. Das Fragen sollten sie wagen und wachsam
sein gegen die Gewissheit des Wissens.
Querdenkend
und wider den Zeitgeist löckend, fasziniert Sokrates die Welt noch immer. Ginge
er heute durch die Hallen und Gänge einer Schule, würde er eine gesunde Skepsis
vorleben – und die Fülle der Arbeitsblätter und die Dominanz des individuellen
Lernens hinterfragen. Und zwar gründlich. Er wüsste: Dossiers duften nicht;
Informationen, Arbeitsblätter und Wochenpläne leben nicht. Darin unterscheiden sie
sich von Geschichten und Erfahrungen, die ein interessiertes Vis-à-vis erzählt
oder dem Gegenüber durch geschickten Dialog entlockt. Es braucht die Fragen und
Impulse eines vital präsenten Lehrers, es braucht die animierenden (Klassen-
und Unterrichts-)Gespräche. Es braucht – salopp formuliert – Lehrerinnen, die
Hebamme und Stechfliege zugleich sind. Nur so entsteht jener Erkenntnisgewinn,
der sich einprägt und Erfahrung wird. Und nur so ist es möglich, zu verstehen
und zu begreifen, was von Bedeutung ist, damit nicht alles an Bedeutung
verliert.
Über Fragen
ins Nach-Denken kommen
Nichts ist,
wie es scheint, und nichts ist einfach einfach, jedenfalls nicht in der
Pädagogik. Das ist Sokrates’ philosophische Paedagogia perennis. Zeitlos und
unbequem. Das lebte der Philosoph vor. Vielleicht waren seine Landsleute nicht
gewohnt, nach Gründen befragt, sondern nach Wissen ab-gefragt zu werden. Nicht
über Vor-Gedachtes sollten sie aber sinnieren, sondern über Fragen ins
Nach-Denken kommen und nach-denklich werden – und so nach eigenen Antworten
suchen. Denn nicht das Wissen steckt an, sondern das Suchen. Wissen ist
wichtig; es referiert auf Erkennen, Verstehen, Begreifen. Dieser Idee lebte
Sokrates im alten Athen nach: die Menschen nicht zu Belehrten und Scheinwissenden
machen, sondern zu wirklich Verstehenden. Goethe drückte das später so aus:
„Was man nicht versteht, das besitzt man nicht.“
Doch die
Einsicht, dass es eine grundlegende Differenz zwischen dem Abrufen von
Informationen und dem Verstehen einer Sache gibt, droht heute verloren zu
gehen. Im Zeitalter des Internets werden Aneignen und Begreifen durch Finden
ersetzt, geleitet von der Vorstellung: Alles, was es an Wissen gibt, ist schon
da. Man muss es nur suchen. Wenn ich‘s gefunden habe, kommt es automatisch auf
die innere Festplatte. Dann habe ich es und weiss es. Zu lernen brauche ich‘s
kaum mehr; die Kunst liegt einzig darin, etwas zu finden. Wer nur weiss, wo und
wie er nachschauen muss, um etwas zu wissen, weiss in Wirklichkeit nichts.
Wissen kann ich nicht konsumieren, so wie ich mir ein Glas Wasser einflösse.
Das versucht nur der Nürnberger Trichter.
„Alles“ ist
der Feind von „etwas“
Schon
Sokrates karikierte diesen Versuch: Es sei, wie wenn man einem Blinden das
Gesicht einsetzen wolle, meinte er. Das Aneignen von Wissen muss durch mich
hindurchgehen; ich muss es erarbeiten, in mich einarbeiten, verarbeiten und
reflektierend in Zusammenhang setzen. Erst dann kann ich verstehen. Das wussten
schon die antiken Philosophen; das betont die moderne Hirnforschung. Friedrich
Nietzsche nannte diesen (Aneignungs-) Vorgang sinngemäss: „Ich verdaue es.“ Und
in diesem „Verdauen“ realisiert sich der Bildungsprozess. Bildung als
angemessenes Verstehen. Das aber braucht Zeit und Musse, eben: scholé. Der
Lernweg ist keine asphaltierte Schnellstrasse, der Erkenntnispfad ein mühsamer
Bergaufprozess – mit Irrungen und Wirrungen. Eine rechte Plackerei eben.
Darum betonte
Sokrates eines unerbittlich: Bildung gewinnt man nicht durch Einbruch ins
oberste Stockwerk. Der Einstieg erfolgt unten. Nur wenn wir aktiv und denkend
dabei sind, wie sich unser Wissen bildet, kann es den Menschen bilden. Eben:
durch nach-denken. Pädagogik hat mit dem Werden des Menschen zu tun und – als
Didaktik im Unterricht – mit dem Werden des Wissens im Menschen. Dazu trug
seine Methode bei, die sokratische, denn das Werden, das Erwachen geistiger
Kräfte vollzieht sich, wie er sagte, am wirksamsten im Gespräch, im Diskurs.
Das Exemplarische gehörte dazu, weil ein genetisch-sokratisches Vorgehen sich
auf ausgewählte Themenkreise beschränken muss, und auch kann. Ein Ding richtig
können ist mehr als Halbheiten im Hundertfachen, denn „alles“ ist der Feind von
„etwas“ – so würde er uns lehren. Konsequent.
Vom Wert des
Selberdenkens
Übers Fragen
kommt man zum Selberdenken – je turbulenter und wissenslastiger die Zeiten,
desto wichtiger wird dieser Aspekt. Das Portfolio der
"Fachkompetenzen" veraltet absehbar. Wer selber denkt, kommt sich nie
abhanden; er sucht immer neue Zugänge, um die Komplexität der Welt zu
verstehen. Training im Selberdenken – dazu würde Sokrates Schülerinnen und
Studierende anstiften. Zäh und zielstrebig. Und er würde sie lehren, dass der
Geist einer lebendigen Schule durchaus ein Geist des Widerspruchs ist, des
Fragens und Hinterfragens.
Und der weise
Grieche animierte wohl auch dazu, die Sprachlichkeit unseres Daseins
auszuleuchten. Sprache als Gegenstand und Medium des Verstehens ist für ihn,
den Philosophen, der zentrale Bezugspunkt. Einem Gegenstand, einem Text
verstehend begegnen, das heisst doch, sich zu ihm in ein dialogisches
Verhältnis bringen und seine innere Dialogizität erfassen. Dieses leise
Zwiegespräch gibt die Antworten und stellt immer neue Fragen. Einleuchtend.
Erst mit der
Sprache geht die Welt auf
Und so stelle
ich es mir vor: Wer Sokrates im Gespräch erlebte, muss einen unauslöschlichen
Eindruck von der Stringenz seines Denkens erhalten und behalten haben – von den
fragenden Augen und vom forschenden Blick, vom weisen Gesicht und vielleicht
sogar vom heitern Lächeln, das immer schon so etwas wie der Anfang eines
Gesprächs ist. Mündliches, freies Nach-Denken. Und damit kehren wir zu den
Anfängen des dialogischen Denkens im alten Griechenland zurück: Denken hängt
immer mit der Sprache zusammen; erst mit ihr geht die Welt auf. Sokrates setzte
auf die Verbindlichkeit und Verlässlichkeit der Sprache als Mitte unserer Welt
– und als Mittel des Denkens.
Die Sprache
öffnet den Zugang zum Denken, in der Sprache gewinnt das Denken Gestalt. Jeder
Gedanke braucht einen Körper, die Sprache. Das würde er uns heute sagen und
lehren. Konsequent. Und er würde schnell erkennen, wie wichtig und aktuell
diese Aufgabe ist: die Sprache als Schlüssel zur Welt.
„Erkenne dich
selbst!“
Lehrerinnen
und Lehrer sind Führungskräfte. Eben Pädagoginnen: paid-agogein, wie es im
Griechischen heisst. Kinder hin(an)führen. Führen, nicht coachen. Klar im
Anspruch und in den Zielen. Und eine gute Führungskraft macht sich nichts vor,
besonders nicht über sich selbst. Γνῶθι σεαυτόν [Gnōthi seautón] hiess es im
Apollontempel zu Delphi: „Erkenne dich selbst!“ „Nosce te ipsum“, wie die Römer
die vielzitierte Devise übersetzten. Selbsterkenntnis ist nach wie vor die
schwierigste Aufgabe für jeden Einzelnen. Sie erfolgt über das Nachdenken
eigener Erfahrungen. Wer das tut, führt eine Art sokratischen Dialog mit sich
selbst. Er stellt die richtigen Fragen zur richtigen Zeit, um Erkenntnisse über
sich und sein Wirken zu gewinnen. Gründliches Nachdenken als Basis wirklichen
Verstehens und Handelns: Denken als innerer Dialog zwischen mir und mir selbst,
wie es Sokrates‘ Schüler Platon nannte. Dazu würden beide Philosophen uns heute
anleiten. Beharrlich.
Sprechen und
Denken sind eins
Sokrates war
klar und konsequent. Mit seiner Schärfe würde er heute wohl anecken,
provozierte er Kritik. Gegenläufiges zu sagen ist im Zeitalter der Pedagogical
Correctness nicht so einfach, der Mut zum Antithetischen nicht ungefährlich. Ob
man ihm den Schierlingsbecher überreichte, bleibe dahingestellt. Eines ist
sicher: Sokrates versteckte sich nicht in einem lauen Schwall der Wörter,
aufgebläht, allessagend und darum nichtssagend. Nein, eine reine und präzise
Sprache. Kein Dauergerede, kein Sturzbach an Geschreibsel und Geschwätz. Auch
darum wünschte ich mir, dass Sokrates heute zur Schule ginge – und dabei eine
gründliche Reinigung der bildungspolitischen Sprache vornähme.
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