14. Oktober 2014

Lehrer auf Bedürfnisse der Buben sensibilisieren

Der Berner Erziehungsdirektor Pulver will den Bedürfnissen der Buben mehr Beachtung schenken. Diese sollen sich mehr bewegen können und besser lesen lernen.



Buben schneiden in Leistungstests schlechter ab, schaffen es seltener aufs Gymnasium und werden öfter "abgeklärt", Bild: Adrian Moser

Bernhard Pulver will die Krise der kleinen Machos beenden, Bund, 14.10. von Adrian M. Moser


Die Erkenntnis ist nicht neu: Nachdem die Mädchen lange benachteiligt gewesen waren in der Schule, gibt es deutliche Hinweise darauf, dass nun die Buben ein Problem haben. Sie schneiden in Leistungstests schlechter ab, schaffen es seltener aufs Gymnasium und werden öfter wegen Verhaltensauffälligkeiten «abgeklärt». Bereits 2006 veröffentlichte der Jugendpsychologe Allan Guggenbühl ein Buch mit dem Titel «Kleine Machos in der Krise». Dennoch hat sich bisher wenig verändert.
Nun hat der bernische Erziehungs­direktor Bernhard Pulver (Grüne) beschlossen, das Problem anzugehen. Bereits vor einem Jahr hat er eine Arbeitsgruppe ins Leben gerufen, deren Aufgabe es ist, das Kapitel «Allgemeine Hinweise und Bestimmungen» für die bernische Version des Lehrplans 21 zu erarbeiten. Ihr hat er nachträglich explizit den Auftrag gegeben, dort auch das Buben­thema zu berücksichtigen.
Ausschlaggebend für diesen Schritt sei die Tatsache gewesen, dass im vergangenen Frühling erneut mehr Mädchen als Buben den Übertritt in die Sek geschafft hätten, sagt Pulver. Bestätigt sah er sich durch die neusten Pisa-Daten, die im September veröffentlicht wurden: Die Buben im Kanton Bern haben der Studie zufolge in der Mathematik nur noch einen kleinen Vorsprung auf die Mädchen. Im Lesen dagegen ­haben sie in der neunten Klasse einen Rückstand, der dem Lernfortschritt von rund anderthalb Jahren entspricht. «Die Buben haben in diesem Alter ein generelles Leistungsproblem», sagt Pulver.
Die Mädchen sind weiter
Einer, der sich seit Jahrzehnten mit dem Geschlechterthema in den Schulen auseinandersetzt, ist Hansjürg Sieber. Er ist Dozent am Institut für Weiterbildung der PH Bern und sitzt ausserdem im Vorstand des Netzwerks Schulische Bubenarbeit und von Männer.ch, dem Dachverband der Schweizer Männer- und Väter­organisationen.
Sieber sieht zwei Hauptgründe für die Leistungs- und Verhaltensunterschiede zwischen Buben und Mädchen. Erstens den biologischen: «Buben starten anders ins Leben als Mädchen», sagt er. Mädchen seien in ihrer Entwicklung tendenziell weiter. Ausserdem führe das männliche Sexualhormon Testosteron zu einem erhöhten Bewegungsdrang. Und zweitens den gesellschaftlichen: «Den Mädchen und Buben werden schon früh bestimmte Rollen zugewiesen», sagt er.
So reagierten Eltern auf dem Spielplatz auf einen Streit zwischen Buben anders als auf einen zwischen Mädchen. «Und in der Schule», sagt Sieber, «gehen diese Rollenzuweisungen weiter.»
Sieber steht in Kontakt mit der Erziehungsdirektion. Die von Pulver ein­gesetzte Arbeitsgruppe wird ihre Vorschläge auch aufgrund seiner Inputs erarbeiten. «Grundsätzlich geht es darum, die Lehrerinnen und Lehrer für die unterschiedlichen Voraussetzungen von Buben und Mädchen zu sensibilisieren», sagt Sieber. So müsse man etwa dem Bewegungs­drang der Buben Rechnung tragen. Er plädiert dafür, Raufereien zuzulassen und die 5-Minuten-Pause nötigenfalls auch auf 10 Minuten auszudehnen, wenn dafür der Unterricht in der nächsten Lektion in geordneteren Bahnen verläuft. «Wichtig ist, dass dabei klare Regeln gelten», sagt Sieber.
Die Lobkultur überdenken
Um den Geschlechterstereotypen ent­gegenzuwirken, macht Sieber sich dafür stark, die «Lobkultur» zu überdenken. «Man muss Buben ganz bewusst auch in Situationen loben, in denen sie besonders fürsorglich oder sozial waren», sagt er. Weiter sieht Sieber in Projekten wie «Bewegte Geschichten» eine Möglichkeit, die Lesefreude der Buben zu steigern. Dabei dienen ältere Buben den jüngeren als Lesevorbilder.
Erziehungsdirektor Pulver ist offenbar bereit, Siebers Einwänden viel Gewicht zu geben. Fragt man ihn, wo er die Problemzonen sieht, erwähnt er zu grossen Teilen dieselben Punkte wie Sieber. Am plakativsten sind diese beiden Sätze von Pulver: «Früher konnte man auf dem Schulweg noch ‹schlegle› und ab und zu einen Baum umschmeissen. Es ist zwar gut, dass man das heute nicht mehr darf – aber den Buben fehlt nun ein Ventil.» Pulver will mit seinem Auftrag an die Arbeitsgruppe unter anderem das «Bewegungsproblem» der ­Buben angehen und ihre Lesefähigkeiten verbessern.
Konkrete Vorstellungen davon, wie sich das im neuen Lehrplan niederschlagen wird, haben zum jetzigen Zeitpunkt weder er noch Hansjürg Sieber. Pulver bemüht sich, keine hohen Erwartungen aufkommen zu lassen: «Ich bin mir nicht sicher, ob wir die Probleme der Buben so leicht lösen können», sagt er. Mit ausgearbeiteten Vorschlägen der Arbeitsgruppe sei frühestens in einem Jahr zu rechnen.


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