Buben schneiden in Leistungstests schlechter ab, schaffen es seltener aufs Gymnasium und werden öfter "abgeklärt", Bild: Adrian Moser
Bernhard Pulver will die Krise der kleinen Machos beenden, Bund, 14.10. von Adrian M. Moser
Die Erkenntnis ist nicht neu: Nachdem die Mädchen lange
benachteiligt gewesen waren in der Schule, gibt es deutliche Hinweise darauf,
dass nun die Buben ein Problem haben. Sie schneiden in Leistungstests
schlechter ab, schaffen es seltener aufs Gymnasium und werden öfter wegen
Verhaltensauffälligkeiten «abgeklärt». Bereits 2006 veröffentlichte der
Jugendpsychologe Allan Guggenbühl ein Buch mit dem Titel «Kleine Machos in der
Krise». Dennoch hat sich bisher wenig verändert.
Nun hat der bernische Erziehungsdirektor Bernhard Pulver
(Grüne) beschlossen, das Problem anzugehen. Bereits vor einem Jahr hat er eine
Arbeitsgruppe ins Leben gerufen, deren Aufgabe es ist, das Kapitel «Allgemeine
Hinweise und Bestimmungen» für die bernische Version des Lehrplans 21 zu
erarbeiten. Ihr hat er nachträglich explizit den Auftrag gegeben, dort auch das
Bubenthema zu berücksichtigen.
Ausschlaggebend für diesen Schritt sei die Tatsache gewesen,
dass im vergangenen Frühling erneut mehr Mädchen als Buben den Übertritt in die
Sek geschafft hätten, sagt Pulver. Bestätigt sah er sich durch die neusten
Pisa-Daten, die im September veröffentlicht wurden: Die Buben im Kanton Bern
haben der Studie zufolge in der Mathematik nur noch einen kleinen Vorsprung auf
die Mädchen. Im Lesen dagegen haben sie in der neunten Klasse einen Rückstand,
der dem Lernfortschritt von rund anderthalb Jahren entspricht. «Die Buben haben
in diesem Alter ein generelles Leistungsproblem», sagt Pulver.
Die Mädchen sind weiter
Einer, der sich seit Jahrzehnten mit dem Geschlechterthema in
den Schulen auseinandersetzt, ist Hansjürg Sieber. Er ist Dozent am Institut
für Weiterbildung der PH Bern und sitzt ausserdem im Vorstand des Netzwerks
Schulische Bubenarbeit und von Männer.ch, dem Dachverband der Schweizer Männer-
und Väterorganisationen.
Sieber sieht zwei Hauptgründe für die Leistungs- und
Verhaltensunterschiede zwischen Buben und Mädchen. Erstens den biologischen:
«Buben starten anders ins Leben als Mädchen», sagt er. Mädchen seien in ihrer
Entwicklung tendenziell weiter. Ausserdem führe das männliche Sexualhormon
Testosteron zu einem erhöhten Bewegungsdrang. Und zweitens den
gesellschaftlichen: «Den Mädchen und Buben werden schon früh bestimmte Rollen
zugewiesen», sagt er.
So reagierten Eltern auf dem Spielplatz auf einen Streit
zwischen Buben anders als auf einen zwischen Mädchen. «Und in der Schule», sagt
Sieber, «gehen diese Rollenzuweisungen weiter.»
Sieber steht in Kontakt mit der Erziehungsdirektion. Die von
Pulver eingesetzte Arbeitsgruppe wird ihre Vorschläge auch aufgrund seiner
Inputs erarbeiten. «Grundsätzlich geht es darum, die Lehrerinnen und Lehrer für
die unterschiedlichen Voraussetzungen von Buben und Mädchen zu
sensibilisieren», sagt Sieber. So müsse man etwa dem Bewegungsdrang der Buben
Rechnung tragen. Er plädiert dafür, Raufereien zuzulassen und die
5-Minuten-Pause nötigenfalls auch auf 10 Minuten auszudehnen, wenn dafür der
Unterricht in der nächsten Lektion in geordneteren Bahnen verläuft. «Wichtig
ist, dass dabei klare Regeln gelten», sagt Sieber.
Die Lobkultur überdenken
Um den Geschlechterstereotypen entgegenzuwirken, macht Sieber
sich dafür stark, die «Lobkultur» zu überdenken. «Man muss Buben ganz bewusst
auch in Situationen loben, in denen sie besonders fürsorglich oder sozial
waren», sagt er. Weiter sieht Sieber in Projekten wie «Bewegte Geschichten»
eine Möglichkeit, die Lesefreude der Buben zu steigern. Dabei dienen ältere
Buben den jüngeren als Lesevorbilder.
Erziehungsdirektor Pulver ist offenbar bereit, Siebers Einwänden
viel Gewicht zu geben. Fragt man ihn, wo er die Problemzonen sieht, erwähnt er
zu grossen Teilen dieselben Punkte wie Sieber. Am plakativsten sind diese
beiden Sätze von Pulver: «Früher konnte man auf dem Schulweg noch ‹schlegle›
und ab und zu einen Baum umschmeissen. Es ist zwar gut, dass man das heute
nicht mehr darf – aber den Buben fehlt nun ein Ventil.» Pulver will mit seinem
Auftrag an die Arbeitsgruppe unter anderem das «Bewegungsproblem» der Buben
angehen und ihre Lesefähigkeiten verbessern.
Konkrete Vorstellungen davon, wie sich das im neuen Lehrplan
niederschlagen wird, haben zum jetzigen Zeitpunkt weder er noch Hansjürg
Sieber. Pulver bemüht sich, keine hohen Erwartungen aufkommen zu lassen: «Ich
bin mir nicht sicher, ob wir die Probleme der Buben so leicht lösen können»,
sagt er. Mit ausgearbeiteten Vorschlägen der Arbeitsgruppe sei frühestens in
einem Jahr zu rechnen.
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