Das Schweizerdeutsche ist eine vielfältige Sprachlandschaft, Bild: Kleiner Sprachatlas der deutschen Schweiz
"Schweizerdeutsch ist nicht minderwertig", NZZ, 29.7. von Paul Schneeberger
Schweizerdeutsch, das
stärkste Identifikationsmerkmal der Deutschschweizer, hat Konjunktur. In Zürich
und im Aargau haben Volksinitiativen Mehrheiten gefunden, die für den
Kindergarten den Gebrauch des Dialekts vorschreiben, und in privaten E-Mails
und SMS wird Schweizerdeutsch zur schriftlichen Kommunikation verwendet.
Konjunktur hat auch die Skepsis in anderssprachigen Landesteilen. Sie fand
Ausdruck unter anderem in der vom Tessiner CVP-Nationalrat Marco Romano in der
Frühlingssession aufgeworfenen Frage, ob die kantonalen Entscheide zugunsten
von Schweizerdeutsch im Kindergarten verfassungsrechtliche Konsequenzen haben
sollten.
Bundesrat Alain Berset
machte in dieser Diskussion deutlich, dass er keinen Handlungsbedarf sieht. Und
er verneinte die Frage, ob in den Schulen der lateinischen Schweiz künftig
Schweizerdeutsch statt Deutsch unterrichtet werden soll, um den nationalen
Zusammenhang zu gewährleisten. Ziel bleibe es, den Schülern grundlegende
Kenntnisse der Amtssprachen zu vermitteln.
Formalität, Informalität
Helen Christen,
Linguistikprofessorin an der Universität Freiburg, sieht es ähnlich.
«Schweizerdeutsch ist die Sprache des Informellen. Und mit dem Schwinden des
Formellen, auch aus Kultur, Politik und Medien seit den 1960er Jahren, gewinnt
es laufend an Bedeutung - zuletzt durch die neue informelle Schriftlichkeit von
Menschen, die sich bis zum Auftauchen neuer Informationskanäle kaum schriftlich
ausgedrückt hätten.»
Hinzu kommt einmal mehr
das, was sich in den Entscheiden zugunsten der Kindergarten-Initiativen
äussert: eine Angst davor, dass einem die Sprache, die man sprechen soll,
vorgeschrieben wird, und eine Bekräftigung der eigenen Identität, wie Helen
Christen beobachtet. Deutschschweizer wüssten sehr wohl um die Grenzen zwischen
Formalität und Informalität, zwischen Hochdeutsch und Schweizerdeutsch: «Es
kommt niemandem in den Sinn, Bewerbungs-E-Mails auf Schweizerdeutsch zu
verfassen.» Und wenn eine Uhrenfirma ihren Jahresbericht - wie 2013 geschehen -
einmal auf Schweizerdeutsch verfasse, sei dies als das zu werten, was es ist:
als PR-Aktion.
«Das Besondere an der
Deutschschweizer Sprachsituation ist, dass Schweizerdeutsch die gesprochene
Umgangssprache aller Bevölkerungsschichten ist. Wer gebildet ist, ist nicht
schon daran zu erkennen, dass er sich in eloquenter Weise einer Hochsprache
bedient, sondern er spricht eloquent Dialekt.» Schweizerdeutsch werde zwar
nicht formell geschrieben, weise aber sonst keinerlei Defizite gegenüber
anderen Sprachen auf, so Christen weiter.
Das gelte es in den anderen
Landesteilen zu vermitteln, sagt Helen Christen: «Es geht darum, den Ruch des
Minderwertigen loszuwerden. Schweizerdeutsch verdient, als das dargestellt und
vermittelt zu werden, was es ist: die selbstverständliche Sprache des
Deutschschweizer Alltags.» Wie soll das konkret geschehen? Doch mit
Schweizerdeutsch als Schulfach in der französischen und italienischen Schweiz?
So weit würde sie nicht gehen, sagt die Linguistin, deren Bewusstsein für das
Verhältnis der Landessprachen durch ihre Tätigkeit direkt am Röstigraben
geschärft ist. Einen tauglichen Ansatz findet sie jenen im Kanton Genf, wo die
Schüler der Oberstufe ansatzweise lernen, Schweizerdeutsch zu hören und zu
verstehen, und wo ihnen vor allem vermittelt wird, welchen Stellenwert die
Dialekte in der Deutschschweiz haben.
Brennend ist auch die Frage
nach den sprachlichen Konsequenzen der vermehrten Präsenz von Hochdeutsch in
der Deutschschweiz. Reichen diese über das Aufkommen von Begriffen wie
«Knaller» und «Schnäppli» hinaus, mit denen der Detailhandel Aktionen bewirbt?
«Ich kann auf der grammatikalischen Ebene keinen substanziellen Wandel
erkennen», sagt Christen. «Eine andere Frage ist jene, ob Dialekt die
selbstverständliche Sprachform auch gegenüber Unbekannten ist. Ein
Paradigmenwechsel wäre gegeben, wenn wir in der Deutschschweiz den Kontakt zu
Unbekannten mit Hochdeutsch aufnehmen würden.» Aber ist es nicht gerade dieses
Einsteigen auf Schweizerdeutsch, das Deutschschweizern immer wieder als
Ignoranz ausgelegt wird?
Helen Christen: «Dieses
Vorurteil gibt es, aber wir können es wissenschaftlich nicht bestätigen. Wir
haben über 6000 Gespräche aus Notrufzentralen ausgewertet, um das zu
überprüfen. In den meisten Fällen haben sich die Telefonisten sprachlich auf
das Gegenüber eingestellt. Wenn jemand Hochdeutsch oder gebrochen sprach, wurde
das Gespräch in der Regel auf Hochdeutsch geführt. Sprachen die Anrufenden
gebrochen, war für die Wahl der Sprachform entscheidend, ob das gebrochene
Deutsch dialektale Züge trug oder nicht. Interessanterweise wurde in dieser
Konstellation auch locker zwischen Hochdeutsch und Dialekt hin und her
gewechselt, was zwischen Einheimischen nicht vorkommt.»
Erinnern an Dürrenmatt
Besteht die Zurückhaltung vieler Deutschschweizer gegenüber der
Anwendung des Hochdeutschen im richtigen Moment nicht aus einem Misstrauen
ihrem eigenen Akzent gegenüber, das verstärkt wird, indem selbst in
elektronischen Schweizer Medien diesen niemand mehr pflegt? «Die Sache mit den
<Modellsprechern> ist eine Herausforderung», sagt Helen Christen. «Es
braucht Selbstbewusstsein, um sich angesichts der vielen unterschiedlich
bewerteten Möglichkeiten, das Hochdeutsche auszusprechen, nicht von dessen
Gebrauch mit der eigenen Färbung abhalten zu lassen. Friedrich Dürrenmatt, der
im gesamten deutschsprachigen Kulturraum anerkannt ist, zelebrierte sein
schweizerisches Hochdeutsch geradezu.» - Tatsächlich, von ihm stammt auch der
Satz: «Wer allzu schön redet, kommt mir provinziell vor.»
Ich wollte immer schon Schweizerdeutsch lernen und kann auch nur eine Lanze für diese schützenswerte Sprache brechen. Toller Beitrag!
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