Das "selbstorganisierte Lernen" bringt nicht das, was es verspricht.
Plädoyer für die Rückkehr zum pädagogisch geführten Klassenunterricht, Elsbeth Schaffner, 27.7.
Kernpunkte dieser Reformprogramme sind die Abschaffung des Klassenunterrichts
und der traditionellen pädagogischen Aufgabe des Lehrers. Zu Unrecht wurde jahrelang
der Klassenunterricht als „autoritärer Frontalunterricht“ gebrandmarkt. Auch
die seit Jahrzehnten herumgereichte Karikatur, die den Begriff der
„Heterogenität“ der Schüler geprägt hat, wird dem moderne Klassenunterricht
nicht gerecht: Ein strenger Lehrer, der mit einem Zeigestock hinter einem Pult
sitzt, erteilt den „Schülern“ die Aufgabe auf einen Baum zu klettern. Da die
Klasse aus verschiedenen Tiere besteht (Elefant, Affe, Papagei, Fisch im Glas),
ist es natürlich ungerecht, allen die gleiche Aufgabe zu stellen. Anknüpfend an
die zutreffende Beobachtung, dass gleichaltrige Kinder individuell verschieden
und die Zusammensetzung der Klassen von Vielfalt geprägt ist, lautet das neue
Bildungsparadigma, guter Unterricht dürfe nicht mehr „lehrerzentriert“, er
müsse „schülerzentriert“ sein. In der Praxis hat sich aber gezeigt, dass die meisten
Kinder und Jugendliche nicht so „funktionieren“, wie es die Theoretiker sich
vorstellen.
Die Nachteile des „individualisierten“ oder
„selbstgesteuerten“ Lernens sind offensichtlich: Immer mehr Kinder haben,
beispielsweise nach der ersten Klasse die Plus- und Minusrechnung im Zahlenraum
bis 10 nicht automatisiert und den so genannten Zehnerübergang (6+7=13 bzw.
13-7=6) nicht gelernt. Wichtige Grundlagen wie das kleine Einmaleins werden
nicht systematisch erarbeitet und gefestigt. Die Kinder sind auf sich gestellt,
was dazu führt, dass sie überall dort, wo ihnen etwas nicht auf Anhieb von
alleine gelingt, entmutigt ausweichen. Lese- und Rechtschreibprobleme sind die
Folge. Die fehlenden Grundlagen sind dann die Ursache für die Schwierigkeiten,
die in den späteren Schuljahren auftauchen. Am meisten betroffen sind Kinder
mit einem Migrationshintergrund und aus bildungsfernen Familien.
Was den Kindern fehlt ist die vertrauensvolle
Beziehung zum Lehrer. Es braucht die Lehrerpersönlichkeit, die den Schülern den
Schulstoff im Klassenunterricht vermittelt. Es braucht den fachlich sowie
didaktisch sauber aufgebauten Unterricht, in dem die Schüler altersentsprechend
und schrittweise angeleitet werden. Dies wird auch in der vielzitierten
Hattie-Studie bestätigt.
Die gleichaltrigen Kinder durch gemeinsamen Unterricht
voranzubringen, entspricht den entwicklungspsychologischen und
anthropologischen Erkenntnissen, dass sich der Mensch nur in der Gemeinschaft
durch Beziehung entwickelt. Gemeinschaft entsteht, wenn ein Lehrer die Schüler
auf eine gemeinsame Sache und aufeinander beziehen kann. Mit seinem
Einfühlungsvermögen nimmt ein guter Lehrer wahr, wie es jedem einzelnen geht -
ob die Kinderaugen leuchten oder abgelöscht sind - und er achtet darauf, dass kein
Kind sich blamiert fühlen muss und Leistungen angemessen zur Geltung kommen. Es
ist die pädagogische Aufgabe des Lehrers mit seiner Persönlichkeit eine
Atmosphäre zu schaffen, in der alle miteinander und voneinander lernen können. So
kann über drei Jahre hinweg eine Klassengemeinschaft wachsen, die von
gegenseitiger Hilfe, Zusammenarbeit und Freundschaft getragen ist.
Die Volksschule hat bis heute die Erziehung und
Bildung zum mündigen Bürger zum Ziel. Lernen ist nicht Selbstzweck sondern
dient letztendlich dazu, später selbständig und verantwortungsbewusst seinen
Platz in der Gesellschaft einzunehmen. Warum also nicht einfach wieder
anknüpfen am traditionellen Schweizerischen Bildungsverständnis und
weiterentwickeln, was mit Johann Heinrich Pestalozzi eine lange und auf der
ganzen Welt modellhafte Tradition hat?
Den „modernen“ Konzepten scheint ein ökonomistisches
Menschenbild zugrunde zu liegen. Genauso wie der „freie“ globalisierte Markt zu
einem erbitterten Kampf um Ressourcen und Marktanteile und damit zum „survival
of the fittest“ zu führen droht, kommen mit den
- ebenfalls globalisierten – Lernsystemen offensichtlich nur diejenigen
zurecht, die von zu Hause zusätzlich Unterstützung erhalten. Wer soll sich dann
allen anderen annehmen, denen in der Schule nicht eine umfassende Bildung
vermittelt wird? Oder glauben wir wirklich, dass Kinder „selbstwirksame“ Wesen
sind, die ihr „Potenzial“ in einer anregenden „Lernumgebung“ oder einer
„Lernlandschaft“ von selbst „entfalten“, und dass man deshalb den von einem
pädagogisch gut ausgebildeten Lehrer geführten Klassenunterricht durch
IT-Tools, „Kompetenzraster“ und vielfältiges „didaktisches Material“ ersetzen kann?
Fügen wir nicht unserer Gesellschaft nachhaltig Schaden zu, wenn fehlgeleitete
Entwicklungen nicht erkannt und korrigiert werden?
Die erfreulichen Initiativen in den
verschiedenen Kantonen zeigen einen Weg, die in den letzten Jahren
diskussionslos eingeführten Schulreformen zu überdenken und wieder an die
Grundlagen des humanistischen Bildungsverständnisses anzuknüpfen. Über alle
unerheblichen Unterschiede in den weltanschaulichen Ansichten hinweg können die
verbindenden Werte in Schule und Gesellschaft wieder ins Zentrum der Politik
gerückt werden. Die direkte Demokratie wird es ermöglichen, sich über die
wichtigsten Inhalte und Ziele der Volksschule zu einigen, ohne den Föderalismus
und das Subsidiaritätsprinzip zu schwächen.
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