«… soll euch nicht die Dummheit töten.» So beginnt ein Gedicht – auf vielen Internetportalen zu finden –, mit dem Kindern die Bedeutung des Lesens von Büchern vor Augen geführt werden soll. Auch wenn der weitere Fortgang des Gedichtes Geschmackssache ist, weist es doch auf die Bedeutung des Lesens für den einzelnen Menschen, für die ganze Gesellschaft hin. – Es ist nun fünfhundert Jahre her, seit mit der Erfindung des Buchdrucks das Lesen und damit die Bildung breiteren Bevölkerungskreisen zugänglich gemacht wurde. Bis dahin wurden Bücher und Dokumente handschriftlich kopiert. In Europa geschah das meistens in den Skriptorien der Klöster, in denen sich Mönche und Nonnen dieser anspruchsvollen Aufgabe annahmen und kunsthandwerkliche Bijous schufen. Und wie ist es mit Büchern und deren Bedeutung für das Lesen heute?
«Wann lesen Sie uns heute
vor?»
Es ist kurz vor dem
Mittagessen. Die Schülerinnen und Schüler einer Mittelstufenklasse sitzen ruhig
und gespannt in ihren Bänken, während die Lehrerin aus einem Buch vorliest.
«Sprichst du Schokolade?», heisst der vielversprechende Titel1. Während die
gleichen Kinder sich sonst oft nur schwer konzentrieren können, sind sie jetzt
sehr aufmerksam. Die Geschichte einer Freundschaft, die mit einigen
Stolpersteinen belastet ist, aber auch den Blick auf das aktuelle Weltgeschehen
richtet, zieht sie in ihren Bann. Es werden Verhaltensweisen beschrieben und
vorgelebt, mit denen sie sich identifizieren, die sie sich zu eigen machen
möchten und an denen sie sich orientieren können. Das Vorlesen führt die Klasse
in eine gemeinsame Welt. Es sind nicht nur intellektuelle, sondern auch soziale
oder emotionale Erfahrungen, die sie fortan miteinander verbinden. So ist es
nachfühlbar, dass sie nur in Ausnahmefällen zulassen wollen, dass die tägliche
Vorlesezeit ausfällt.
Vorlesen? Bei grösseren
Kindern oder gar Jugendlichen?
Beginnen wir bei den
jüngeren. Für viele Eltern und Grosseltern ist es glücklicherweise auch heute
noch selbstverständlich, gemeinsam mit ihren Kindern und Enkeln Bilderbücher
anzuschauen und Geschichten vorzulesen. Sie beginnen, gemeinsam die Welt zu
entdecken und geben ihnen Raum für all ihre Fragen. In kuschliger Umgebung
ungeteilte Aufmerksamkeit, Wohlwollen und Geborgenheit zu schenken und zusammen
in eine Geschichte einzutauchen, weckt die Neugier und stärkt das Gefühl
emotionaler Verbundenheit. Aber nicht nur das! Studien zeigen, dass
zweijährige Kinder, bei denen das gemeinsame Betrachten von Bilderbüchern und
Vorlesen zu den regelmässigen Beschäftigungen gehören, doppelt so viele Wörter
sprechen wie gleichaltrige Kinder, die darauf verzichten müssen. Sie lernen viele
neue Begriffe; die Gestaltung von Sätzen und verschiedene Formen der Sprache
werden verinnerlicht. Sie erweitern ihr Spektrum, sich auszudrücken und mit
ihren Mitmenschen zu kommunizieren. Durch das Vorlesen und Betrachten von
Büchern verbessern die Kinder ihre Ausdauer, werden kreativer und verbessern
ihr Gedächtnis und ihre Konzentrationsfähigkeit. Gerade in diesem
Alter sind Kinder auch sehr empfänglich für kleine Gedichte und Reime, mit
denen sie den Rhythmus der Sprache entdecken. Eine Fundgrube dafür sind die
Bücher von Susanne Meier-Stöcklin.2 Beim gemeinsamen Betrachten
eines Buches erhält ein Kind viele (Lern-)impulse, wie sie durch keine
Fernsehprogramme, Tablet-Spiele und Smartphone-Apps zu überbieten sind. So
entwickeln Kinder schon früh eine positive emotionale Beziehung zu Büchern, die
meist lebenslang erhalten bleibt. Das ist die beste Grundlage für eine gute
Bildung.
Leider hören viele Eltern auf vorzulesen, wenn ein Kind
selber lesen kann. Zwar ist das ebenfalls wichtig und zu unterstützen, aber es
ersetzt das Vorlesen keinesfalls. Auch grössere Kinder schätzen es, wenn man
sich zusammen ein Buch vornimmt und allenfalls abwechslungsweise daraus
vorliest.
Wie «bringe» ich mein Kind
zum Lesen?
In Gesprächen mit Eltern ist
das Lesen immer wieder Thema. Sie würden sich wünschen, dass ihre Kinder mehr
lesen würden. Die digitalen Medien nehmen bei manchen von ihnen (zu) viel Raum
ein. Aber trotzdem ist noch viel Luft nach oben, sie zum Lesen zu verlocken.
Wir probierten es in unserer Schule mit Kindern aller Altersstufen aus.
Angeregt durch eine andere Schule starteten wir bei uns mit dem Projekt
15x15.3 An fünfzehn Tagen je fünfzehn Minuten lesen. Wir wollten
jedoch nicht jede Schülerin, jeden Schüler in einem selbst gewählten Buch lesen
lassen, sondern kreierten eine eigene Variante und lasen ihnen klassenweise ein
Buch vor. Einmal pro Tag spazierte ein Schüler zu einem unerwarteten Zeitpunkt
mit dem Triangel durchs Schulhaus und kündigte an, dass jetzt alles beiseite
gelegt werden sollte. Die Vorlesezeit begann; es wurde sehr still im
Schulhaus. Das Echo der Schülerinnen und Schüler war positiv, und
in verschiedenen Klassen wurde das Vorlesen von da an in den Stundenplan
integriert.
Warum nicht auch in der
Familie?
Das (Vor-)Lesen in den Familienalltag
einplanen, auch bei grösseren Kindern? Eine Mutter erzählte mir, dass es bei
ihnen seit Jahren ein Ritual sei, dass sie sich mit den beiden mittlerweile
vorpubertären Söhnen aufs Sofa lümmelt. Einer links, der andere rechts von ihr,
um gemeinsam ein Buch zu lesen (und dabei manchmal gemütlich einzuschlafen).
Ich staunte, wusste ich doch von ihrem Sohn, dass er den Lesevorgang nicht sehr
flüssig beherrschte. Hingegen war mir schon aufgefallen, dass er einen guten
Wortschatz hatte und den Sinn von Gelesenem sowohl intellektuell als auch
emotional sehr gut erfassen und nachempfinden konnte. Eine Fähigkeit, die er
sicherlich in seinen familiären Vorlesestunden erworben hatte. Allein durch
alltägliche Gespräche wäre es nicht so leicht möglich gewesen.
Gross und klein
Bei einem anderen
Leseprojekt bildeten wir für zwei Wochen tägliche Lesepartnerschaften von
älteren und jüngeren Schülern. Es war nicht schwierig, die Grossen dafür zu
gewinnen, mit den Kleinen ein Bilderbuch anzuschauen, eine Geschichte
vorzulesen oder gemeinsam in einem Buch zu lesen. Wir wählten die Lesepaare
sehr bewusst aus. So übernahm eine scheue ältere Schülerin die Aufgabe, mit
einem lernschwachen kleinen Mädchen die Buchstaben kennenzulernen. Wir
staunten, wie geduldig und zielsicher sie diese Aufgabe übernahm. Ein Schüler,
der in seiner Klasse sonst viel Unruhe verbreitete, hatte keine Mühe, seinen
kleinen Wirbelwind, der ihn oft provoziert hatte, bei der Stange zu halten.
Wenn sie sich im Schulhaus begegneten, war fortan eine freundliche Begrüssung
eine Selbstverständlichkeit. Wäre hier nicht auch eine Möglichkeit, das im
familiären Umfeld umzusetzen?
Wie sieht dein «Held» aus?
Selbstverständlich haben
auch qualitativ hochstehende Filme ihre Berechtigung und beinhalten Möglichkeiten,
den Zuschauer anzusprechen und ihn inhaltlich und emotional anzusprechen. (Ich
habe im Kino immer ein Päcklein Taschentücher dabei!) Das Vorlesen und Lesen
eines Buches erfordert jedoch eine hohe andere Aktivität. Die im Text
ausformulierten Gedanken und Gefühle müssen durch den Lesenden in innere Bilder
umgesetzt werden. Das schult in ausgeprägtem Masse die Vorstellungskraft und
das Einfühlungsvermögen. Die Lesenden sind aufgefordert, einen inneren Film zu
drehen. Dabei ist bei ungeübten Lesern oft ein klärendes Gespräch hilfreich,
und das Niveau des Lesetextes muss sorgfältig abgestimmt werden. Wo spielt die
Geschichte? Was geschieht? Wer kommt vor? Es war eine erheiternde Situation,
als ich meine Schülerinnen und Schüler einmal fragte, wie sie sich den «Helden»
der Geschichte vorstellen würden. Sämtliche Varianten von Haar-, Augen- und
Hautfarben, anderen körperlichen Merkmalen und Kleidungsstücken kamen zusammen
– bestimmt durch das Vorstellungsvermögen jedes einzelnen
Kindes.
Ein eindrückliches literarisches Beispiel für die Macht
dieser inneren Bilder stammt möglicherweise von Ernest Hemingway. Es
wird erzählt, dass er mit einigen seiner schreibenden Freunde eine Wette
abgeschlossen hatte. Sie hatten ihm unterstellt, er sei nicht in der Lage, eine
Geschichte in sechs Worten zu beschreiben. Er überraschte sie mit dem Satz: For
sale: baby shoes, never worn (Zu verkaufen: Babyschuhe, ungetragen). Damit
entlockte er – falls die Ankedote tatsächlich von ihm stammt – nicht nur seinen
damaligen Freunden eine Geschichte, die vor dem Hintergrund persönlicher
Erfahrungen und Erlebnisse ausgestaltet war. Oder was geht Ihnen durch den
Kopf?
In einen inneren Dialog
treten
Zu einer vertieften Lektüre
gehört es, sich auf die Perspektive und das Empfinden anderer Menschen
einzulassen und in einen inneren Dialog mit ihnen zu treten. Wir fühlen mit und
erfahren, was es bedeutet, verzweifelt zu sein oder auch beglückt. Wir betreten
fremde Welten und erfahren Dinge, die uns in unserem Leben bisher verschlossen
waren, oder wir können uns identifizieren und machen die Erfahrung, mit unseren
Erlebnissen und Gefühlen nicht allein zu sein. Das Lesen beinhaltet die
Möglichkeit, einen ersten Einblick in fremde Kulturen und Länder zu erhalten,
der oft authentischer ist, als es die heutigen Tourismusangebote vermögen. So
erfahren die Schülerinnen und Schüler, welche das Buch von Cas Lester
vorgelesen bekommen, etwas über die Situation von Flüchtlingen aus Syrien. Mehrnousch
Zaeri-Esfahani4 erzählt ihnen, wie sie auf beschwerlichen Wegen von
Iran nach Deutschland gekommen ist und eine neue Heimat gefunden hat. Judith
Hohnhold hat mit einer vereinfachten Version des weltbekannten Jugendbuches
von Karl Bruckner auch für ungeübtere Leser und Leserinnen die
Möglichkeit geschaffen, das Schicksal von Sadaki Sasaki kennenzulernen,
die den ersten Atombombenangriff der Geschichte auf ihre Heimatstadt Hiroshima
scheinbar unbeschadet überlebt hat.5 Man begibt sich in die Welt des
anderen und kehrt bereichert zurück. Das kann uns helfen, eine Brücke zu
unseren Mitmenschen in aller Welt zu bauen – eine Brücke, die auch später im
Leben tragen kann.
Leider ist diese Fähigkeit zur Empathie in den
letzten 40 Jahren und speziell seit der Jahrtausendwende sehr zurückgegangen,
wie Sherry Turkle, eine renommierte Forscherin am MIT
(Massachusetts-Institut für Technologie) in ihren Studien feststellt. Ein
Zusammenhang wird darin vermutet, dass viele Menschen ständig online unterwegs
seien, was die Begegnung von Angesicht zu Angesicht verhindere und
zwischenmenschliche Distanz erzeuge. Beginnt das aber nicht schon damit, dass
das Lesen guter Bücher nicht nur bei den Kindern, sondern auch bei den
Erwachsenen zu wenig Raum einnimmt?
Lesen ist mehr als
Lesetechnik …
In der Welt der heutigen
Lehrmittel hat der Lesevorgang einen hohen Stellenwert. Der Lehrplan 21 seziert
ihn in seine Einzelteile und formuliert entsprechende Kompetenzen. Es geht um
bessere Lesetechniken, sinnentnehmendes Lesen usw., mit denen Leseschaltkreise
im Gehirn optimiert werden sollen. Wollen wir das Lesen auf das reduzieren?
Oder gilt für uns nicht eher, was Olga Meyer, deren Kinder- und
Jugendbücher Generationen von Kindern mitgeprägt haben: «Die Welt mit ihrer
hochentwickelten Technik, in die das Kind heute gestellt ist, kann wohl sein
Interesse erregen, nie aber sein Herz erwärmen, ihm Geborgenheit geben, die es
zu seiner inneren Entwicklung braucht.»6 Und dafür müssen wir unseren
Kindern die Möglichkeit geben: Lesen zu lieben; ein wertvolles Werkzeug, das
sie auf ihrem Weg begleiten wird. So bilden wir Menschen heran, von der unsere
und jede andere Gesellschaft nicht genug haben kann. Dazu braucht es mehr als
digitale Leseprogramme, bei denen die entsprechenden Kompetenzen abgeprüft
werden mit dem hohlen Versprechen, dass so die beruflichen Chancen optimiert
würden.
… es ist eine
Kulturtechnik
Das hoffe ich, verdeutlicht
zu haben. Das Lesen befähigt den Menschen, anspruchsvoll zu kommunizieren und
sich zu bilden. Aber nicht nur das; beim Lesen formt der Mensch seine
Persönlichkeit. Er bekommt Einblick in die Welt seiner Mitmenschen und lernt,
«mit den Augen eines anderen zu sehen, mit den Ohren eines anderen zu hören,
mit dem Herzen eines anderen zu fühlen», wie Alfred Adler es
formulierte. Das erlaubt es uns, andere Möglichkeiten zu erkennen, wie wir
miteinander umgehen können. Was geschieht aber mit Kindern, die nie mit den
Gedanken und den Gefühlen konfrontiert sind, die andere Menschen haben? – Über
das Schicksal des einzelnen Menschen hinaus müssen wir auch die ganze
Menschheitsfamilie einbeziehen. Das Lesen eröffnet die Möglichkeit, grössere
Zusammenhänge zu verstehen, die das gesellschaftliche Leben bestimmen. Es legt
die Grundlagen zu freiem Denken und Entscheiden. Das ist der Weg zum mündigen
Bürger und damit Grundlage jeder Demokratie.
1 Lester,
Cas. Sprichst du Schokolade? Arsedition. 2018. EAN 9783845829241
2 Siehe
dazu die Webseite der Autorin. www.stoecklin-meier.ch
3 vgl.
dazu www.condorcet.ch. Pichard,
Alain. Leseförderung: Das Projekt 15×15.
4 Zaeri-Esfahani,
Mehrnousch. 33 Bogen und ein Teehaus. Peter Hammer-Verlag. 2018. ISBN
978-3-7795-0522-8
5 Hohnhold,
Judith. Sadako. Ein Wunsch aus tausend Kranichen. Thienemann-Esslinger
Verlag GmbH. ISBN 978-3-8489-2099-0
6 Meyer,
Olga. Olga Meyer erzählt aus ihrem Leben. Rascher-Verlag
Zürich-Stuttgart
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