1. März 2019

Starker Anstieg der Privatschulen in St. Gallen


Es ist kurz nach 8 Uhr, als die ersten Schülerinnen und Schüler an der Dufourstrasse 76 eintreffen. Noch im Pausenraum geben sie den Lehrern die Hand und erzählen vom Wochenende, fast wie einem Schulgspänli. Doch Lehrer und Schüler sind es eben nur für Aussenstehende. Die Sprache an der Neuen Stadtschule weicht von jener an der Volksschule ab, genauso wie Lernumgebung und -methoden. Aus Lehrern wurden Lernbegleiter, aus Schülern Lernpartner und aus der täglichen Fätzli-Tour ein Achtsamkeitsrundgang. Gelernt wird nicht an Schreibtischen in Reih und Glied, sondern in einer Lernlandschaft im ehemaligen Schiff der alten Kirche am Rosenberg. Bequem im Sessel, am eigenen Arbeitsplatz mit dekorierter Pinnwand oder in sogenannten Think Tanks: verglaste Zimmer, die an der Decke in den Raum ragen und in denen Lernbegleiter Inputs geben – keinen Frontalunterricht.
Wo Kinder teuer lernen: Zahl der St. Galler Privatschulen hat sich fast verdoppelt, St. Galler Tagblatt, 1.3. von Seraina Hess


Die Philosophie der neuen Stadtschule basiert auf dem Konzept des autonomen Lernens. Das heisst: Die Schüler erarbeiten den Stoff in ihrem Tempo und auf ihre Weise, stets unterstützt durch Lernbegleiter und digitale Lehrmittel auf dem iPad. Genau das schätzt der 13-jährige Hendrik Hennig aus Wil, der vor zwei Jahren an die Neue Stadtschule gewechselt hat und seither gute Noten schreibt. Zuvor war ihm jeder Schultag aufs Neue ein Graus. Entgegen der Erwartung kommen nicht alle Lernpartner an der Neuen Stadtschule aus besonders wohlhabenden Verhältnissen. Schulleiter Michael Hasler sagt:
«Wir sind keine weitere elitäre Privatschule. Es gibt hier Kinder des Multimillionärs und des einfachen Arbeiters, der sich das Schulgeld zusammenspart.»

Zwei Drittel der Kinder stammten aus einer Familie mit mittlerem Verdienst.

Von fünf auf neun Privatschulen
Derzeit sind es 185 Stadtsanktgaller Kinder und Jugendliche, die eine private Institution besuchen – das entspricht 2,7 Prozent der Schulpflichtigen. Gemäss Marlis Angehrn, Leiterin Schule und Musik der Stadt St. Gallen, schwanke die Zahl seit Jahren, ohne in eine Richtung auszuschlagen. Eine deutliche Zunahme zeigt sich allerdings bei den privaten Schulen auf Stadtgebiet: Gemäss kantonalem Amt für Volksschule sind es zum jetzigen Zeitpunkt neun Privatschulen (siehe Karte). Vor zehn Jahren waren es noch fünf.
Am stärksten genutzt werden Angebote auf Primar- und Oberstufe: Je knapp 200 Schüler aus verschiedenen Kantonen und aus dem Ausland besuchen private St. Galler Institutionen. Letztere sind vor allem im Institut auf dem Rosenberg anzutreffen. Von insgesamt 230 Schülern des Instituts stammen gerade einmal fünf aus St. Gallen; 95 Prozent kommen aus 50 verschiedenen Nationen.

Attraktiv für Mörschwil, Eggersriet und Untereggen
Anders sieht es an der Neuen Stadtschule aus. Etwa ein Drittel der Lernpartner wohnt in St. Gallen. Kerngebiete sind aber auch umliegende Gemeinden in bis zu 25 Kilometern Distanz, manchmal mehr. Attraktiv sei die Schule für Jugendliche aus Untereggen, Mörschwil und Eggersriet – Schulgemeinden, die selbst keine Oberstufe führen und sich an den Kosten in der Höhe von 24000 Franken pro Kind und Schuljahr beteiligen.

Die Neue Stadtschule ist eine der vier seit 2009 neu entstandenen Institutionen. Ihr Angebot umfasst in erster Linie Oberstufe und Pro-Gymnasium; vor eineinhalb Jahren wurde es durch ein Gymnasium an der Geltenwilenstrasse ergänzt. Eine Alternative zur gymnasialen Ausbildung an der Kantonsschule, die in einer eidgenössischen Matura mündet.

Pura Vida: Von drei auf 80 Schüler in drei Jahren
Gegründet wurde die Neue Stadtschule 2014 von Schulreformer Peter Fratton und Bettina Würth, Beiratsvorsitzende der weltweit tätigen Würth-Gruppe. 2016 zählte die Institution 19 Lernpartner, heute sind es insgesamt 67. Noch rasanter entwickelt hat sich die Pura Vida Schule an der Fürstenlandstrasse. Im April 2016 mit drei Schülern gestartet, liegt sie inzwischen bei 80. Von solchen Entwicklungen können längst nicht alle Privatschulen berichten. Von stagnierenden Schülerzahlen im letzten Jahrzehnt spricht etwa der Trägerverein Waldkinder St. Gallen. Bei der Ortega-Schule sinken die Schülerzahlen leicht, bei der Rudolf-Steiner-Schule schwankten die Zahlen in jüngster Vergangenheit erheblich. Derzeit sei aber «ein deutlicher Aufwärtstrend bei der Nachfrage interessierter Eltern zu verzeichnen», heisst es bei der Schulleitung.

Trotz der Erfolge der letzten Jahre: Ein Wachstum um jeden Preis wird an der Neuen Stadtschule nicht angestrebt. Die Institution hat bei 90 Jugendlichen die Obergrenze festgelegt. «Der familiäre Charakter und die individuelle Betreuung stehen im Zentrum», sagt Schulleiter Michael Hasler. Denn genau das sei es, was Eltern und Kinder an der Neuen Stadtschule suchten. Ganz gleich, wie gross das Portemonnaie ausfällt.

Für die Volksschule in der Stadt St.Gallen seien private Institutionen keine Konkurrenz, sagt Marlis Angehrn, Leiterin Schule und Musik. Die Anzahl städtischer Kinder und Jugendlicher, die an Privatschulen unterrichtet werden, schwankt seit Jahren.

Kennen Sie die Hauptgründe, die Eltern dazu bewegen, ihre Kinder auf eine Privatschule zu schicken? 

Zum einen sind es Problemerfahrungen, deren Ursache Eltern in der Schule sehen. In manchen Fällen hilft ein Wechsel, in manchen nicht. Zum anderen gibt es Eltern, die eine Privatschule für ihr Kind im Vorneherein, also auch ohne Problemerfahrung, aus vielfältigen anderen Gründen vorziehen. Diesen insgesamt 2,7 Prozent Eltern stehen 97,3 Prozent gegenüber, die ihr Kind in die öffentliche Schule schicken. Die meisten davon aus Überzeugung und mit Zufriedenheit, einige natürlich auch, weil sie keine andere Wahl haben.

Gemäss Schulleiter Michael Hasler sind Privatschulen heute nicht mehr nur für gut betuchte Familien – es gebe viele Normalverdiener, die sich das Schulgeld zusammensparten. 

Das mag sein. Aber noch immer ist es Fakt, dass man Erspartes braucht. Jedem Kind sei eine glückliche Schulzeit gegönnt. Wenn die einen dieses Glück in der öffentlichen Schule unentgeltlich geniessen, die anderen es in einer Privatschule erkaufen, so ist in beiden Fällen viel gelungen. Eine Garantie, mit dem investierten Geld tatsächlich mehr Glück für das Kind eingekauft zu haben, gibt es nicht.

Bietet die Volksschule denn auch in schwierigen Fällen immer passende Lösungen? 

Nein, das gelingt weder der Volksschule noch den Privatschulen in jedem Fall. Manchmal scheitern junge Menschen. Das ist immer auch ein Scheitern der Schule, ob öffentlich oder privat. Jedes Scheitern ist ein Scheitern zu viel.

Im schweizweiten Kontext sprechen Medien manchmal von der Privatschule als «Konkurrenz zur Volksschule». Verhält es sich in St.Gallen ähnlich? 

Nein, keineswegs, dies zeigen allein die Zahlen. Ich kenne Lehrpersonen an öffentlichen wie an privaten Schulen, denen ein hoch engagierter Unterricht zu Gunsten des Kindes gelingt. Und ich kenne missglückte Schulkarrieren bei uns, aber auch an Privatschulen.  


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