Es ist kurz nach 8 Uhr, als die ersten Schülerinnen und Schüler an der
Dufourstrasse 76 eintreffen. Noch im Pausenraum geben sie den Lehrern die Hand
und erzählen vom Wochenende, fast wie einem Schulgspänli. Doch Lehrer und
Schüler sind es eben nur für Aussenstehende. Die Sprache an der Neuen
Stadtschule weicht von jener an der Volksschule ab, genauso wie Lernumgebung
und -methoden. Aus Lehrern wurden Lernbegleiter, aus Schülern Lernpartner und
aus der täglichen Fätzli-Tour ein Achtsamkeitsrundgang. Gelernt wird nicht an
Schreibtischen in Reih und Glied, sondern in einer Lernlandschaft im ehemaligen
Schiff der alten Kirche am Rosenberg. Bequem im Sessel, am eigenen Arbeitsplatz
mit dekorierter Pinnwand oder in sogenannten Think Tanks: verglaste Zimmer, die
an der Decke in den Raum ragen und in denen Lernbegleiter Inputs geben – keinen
Frontalunterricht.
Wo Kinder teuer lernen: Zahl der St. Galler Privatschulen hat sich fast verdoppelt, St. Galler Tagblatt, 1.3. von Seraina Hess
Die Philosophie der neuen Stadtschule basiert auf dem Konzept des
autonomen Lernens. Das heisst: Die Schüler erarbeiten den Stoff in ihrem Tempo
und auf ihre Weise, stets unterstützt durch Lernbegleiter und digitale
Lehrmittel auf dem iPad. Genau das schätzt der 13-jährige Hendrik Hennig aus
Wil, der vor zwei Jahren an die Neue Stadtschule gewechselt hat und seither
gute Noten schreibt. Zuvor war ihm jeder Schultag aufs Neue ein Graus. Entgegen
der Erwartung kommen nicht alle Lernpartner an der Neuen Stadtschule aus
besonders wohlhabenden Verhältnissen. Schulleiter Michael Hasler sagt:
«Wir sind keine weitere elitäre Privatschule. Es
gibt hier Kinder des Multimillionärs und des einfachen Arbeiters, der sich das
Schulgeld zusammenspart.»
Zwei Drittel der Kinder stammten aus einer Familie mit mittlerem
Verdienst.
Von fünf auf neun Privatschulen
Derzeit sind es 185 Stadtsanktgaller Kinder und Jugendliche, die eine
private Institution besuchen – das entspricht 2,7 Prozent der Schulpflichtigen.
Gemäss Marlis Angehrn, Leiterin Schule und Musik der Stadt St. Gallen, schwanke
die Zahl seit Jahren, ohne in eine Richtung auszuschlagen. Eine deutliche
Zunahme zeigt sich allerdings bei den privaten Schulen auf Stadtgebiet: Gemäss
kantonalem Amt für Volksschule sind es zum jetzigen Zeitpunkt neun
Privatschulen (siehe Karte). Vor zehn Jahren waren es noch fünf.
Am stärksten genutzt werden Angebote auf Primar- und Oberstufe: Je knapp
200 Schüler aus verschiedenen Kantonen und aus dem Ausland besuchen private
St. Galler Institutionen. Letztere sind vor allem im Institut auf dem Rosenberg
anzutreffen. Von insgesamt 230 Schülern des Instituts stammen gerade einmal
fünf aus St. Gallen; 95 Prozent kommen aus 50 verschiedenen Nationen.
Attraktiv für Mörschwil, Eggersriet
und Untereggen
Anders sieht es an der Neuen Stadtschule aus. Etwa ein Drittel der
Lernpartner wohnt in St. Gallen. Kerngebiete sind aber auch umliegende
Gemeinden in bis zu 25 Kilometern Distanz, manchmal mehr. Attraktiv sei die
Schule für Jugendliche aus Untereggen, Mörschwil und Eggersriet –
Schulgemeinden, die selbst keine Oberstufe führen und sich an den Kosten in der
Höhe von 24000 Franken pro Kind und Schuljahr beteiligen.
Die Neue Stadtschule ist eine der vier seit 2009 neu entstandenen
Institutionen. Ihr Angebot umfasst in erster Linie Oberstufe und Pro-Gymnasium;
vor eineinhalb Jahren wurde es durch ein Gymnasium an der Geltenwilenstrasse
ergänzt. Eine Alternative zur gymnasialen Ausbildung an der Kantonsschule, die
in einer eidgenössischen Matura mündet.
Pura Vida: Von drei auf 80 Schüler in
drei Jahren
Gegründet wurde die Neue Stadtschule 2014 von Schulreformer Peter
Fratton und Bettina Würth, Beiratsvorsitzende der weltweit tätigen
Würth-Gruppe. 2016 zählte die Institution 19 Lernpartner, heute sind es
insgesamt 67. Noch rasanter entwickelt hat sich die Pura Vida Schule an der
Fürstenlandstrasse. Im April 2016 mit drei Schülern gestartet, liegt sie
inzwischen bei 80. Von solchen Entwicklungen können längst nicht alle
Privatschulen berichten. Von stagnierenden Schülerzahlen im letzten Jahrzehnt
spricht etwa der Trägerverein Waldkinder St. Gallen. Bei der Ortega-Schule
sinken die Schülerzahlen leicht, bei der Rudolf-Steiner-Schule schwankten die
Zahlen in jüngster Vergangenheit erheblich. Derzeit sei aber «ein deutlicher
Aufwärtstrend bei der Nachfrage interessierter Eltern zu verzeichnen», heisst
es bei der Schulleitung.
Trotz der Erfolge der letzten Jahre: Ein Wachstum um jeden Preis wird an
der Neuen Stadtschule nicht angestrebt. Die Institution hat bei 90 Jugendlichen
die Obergrenze festgelegt. «Der familiäre Charakter und die individuelle
Betreuung stehen im Zentrum», sagt Schulleiter Michael Hasler. Denn genau das
sei es, was Eltern und Kinder an der Neuen Stadtschule suchten. Ganz gleich,
wie gross das Portemonnaie ausfällt.
Für die Volksschule in der Stadt St.Gallen seien private Institutionen
keine Konkurrenz, sagt Marlis Angehrn, Leiterin Schule und Musik. Die
Anzahl städtischer Kinder und Jugendlicher, die an Privatschulen unterrichtet
werden, schwankt seit Jahren.
Kennen Sie die Hauptgründe, die Eltern dazu bewegen, ihre Kinder auf
eine Privatschule zu schicken?
Zum einen sind es Problemerfahrungen, deren Ursache Eltern in der Schule sehen. In manchen Fällen hilft ein Wechsel, in manchen nicht. Zum anderen gibt es Eltern, die eine Privatschule für ihr Kind im Vorneherein, also auch ohne Problemerfahrung, aus vielfältigen anderen Gründen vorziehen. Diesen insgesamt 2,7 Prozent Eltern stehen 97,3 Prozent gegenüber, die ihr Kind in die öffentliche Schule schicken. Die meisten davon aus Überzeugung und mit Zufriedenheit, einige natürlich auch, weil sie keine andere Wahl haben.
Gemäss Schulleiter Michael Hasler sind Privatschulen heute nicht mehr
nur für gut betuchte Familien – es gebe viele Normalverdiener, die sich das
Schulgeld zusammensparten.
Das mag sein. Aber noch immer ist es Fakt, dass man Erspartes braucht. Jedem Kind sei eine glückliche Schulzeit gegönnt. Wenn die einen dieses Glück in der öffentlichen Schule unentgeltlich geniessen, die anderen es in einer Privatschule erkaufen, so ist in beiden Fällen viel gelungen. Eine Garantie, mit dem investierten Geld tatsächlich mehr Glück für das Kind eingekauft zu haben, gibt es nicht.
Bietet die Volksschule denn auch in schwierigen Fällen immer passende
Lösungen?
Nein, das gelingt weder der Volksschule noch den Privatschulen in jedem Fall. Manchmal scheitern junge Menschen. Das ist immer auch ein Scheitern der Schule, ob öffentlich oder privat. Jedes Scheitern ist ein Scheitern zu viel.
Im schweizweiten Kontext sprechen Medien manchmal von der Privatschule
als «Konkurrenz zur Volksschule». Verhält es sich in St.Gallen ähnlich?
Nein, keineswegs, dies zeigen allein die Zahlen. Ich kenne Lehrpersonen an öffentlichen wie an privaten Schulen, denen ein hoch engagierter Unterricht zu Gunsten des Kindes gelingt. Und ich kenne missglückte Schulkarrieren bei uns, aber auch an Privatschulen.
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