Wenn sich die Kinder des Schulhauses Nordstrasse auf dem Pausenplatz
versammeln, braucht der Schulleiter Christian Gerber jeweils ein Megafon, um
ihnen etwas mitzuteilen. Nur so kommt er gegen den Lärm an, den die unmittelbar
angrenzende Rosengartenstrasse verursacht. 56 000 Autos und Lastwagen
fahren täglich vierspurig über Zürichs hässlichste und dichteste Verkehrsachse.
Davon scheinen die Schülerinnen und Schüler in dieser 10-Uhr-Pause wenig
mitzubekommen.
Wie eine Schule mit Schallschutz und Pioniergeist der lautesten Strasse der Schweiz trotzt, NZZ, 6.3. von Lena Schenkel
Unbekümmert schiessen sie Bälle auf ein Fussballtor oder rennen einander
laut rufend nach. Zuweilen übertönen sie den Verkehrslärm gar. Eine dicke
Betonmauer umgibt die «Pausenhalle», wie Gerber sie nennt. In den darin
eingelassenen Fenstern ist die Strasse nur ausschnittweise sichtbar. «Die Wand
schützt nicht nur vor Lärm, sondern auch vor Schadstoffen», sagt er – «der Russ
zieht schön oben drüber». Die gemessenen Feinstaubwerte seien immer im Rahmen.
«Und das seitliche Vordach schützt vor Regen», fügt er lächelnd hinzu.
Immer das Positive zu sehen, scheint zur DNA dieser Schule zu gehören.
Dass sie an dieser Lage überhaupt noch besteht, ist nicht selbstverständlich.
Als 1972 die Westtangente eröffnet wird, kehren viele Familien dem Quartier den
Rücken. Zu belastend sind die Lebensbedingungen geworden. Überhaupt ziehen die
Menschen in den achtziger Jahren zunehmend aus der Stadt, auch und gerade
solche mit Kindern. Spötter verleihen Zürich ein AAA-Rating – es steht für
Alte, Ausländer und Arbeitslose. Ab 1993 gibt es für Familien mit der offenen Drogenszene am Letten noch einen
Grund weniger, in Wipkingen zu wohnen. Die wenigen, die bleiben, wollen ihre
Kinder lieber nicht an der lärmigen Nordstrasse einschulen und ersuchen die
Stadt um Umteilung.
Tagesschule in den 1980ern
Die Kreisschulbehörde Waidberg spielt mit dem Gedanken, die Schule zu
schliessen. Doch die Lehrer an der Nordstrasse wehren sich. Jetzt brauche es
hier erst recht eine Schule, finden sie – und zwar eine besonders gute. Bereits
1980 ergriff das Schulteam die Initiative und gründete einen sogenannten
Schülerklub, wie es ihn damals erst an drei Standorten in der Stadt Zürich gab.
Das Modell garantiert jedem Schulkind eine Betreuung von 7 bis 18 Uhr.
Ausserdem gibt es Kursangebote, welche für Hortkinder obligatorisch und für die
übrigen freiwillig sind. Es wird gemeinsam gekocht oder gemalt, geturnt oder
gebastelt. Damit sollten insbesondere Kinder aus sozial benachteiligten
Familien eine «Oase der Geborgenheit» erhalten, wie es bis heute im Porträt der
Schule heisst.
Obwohl die Kinderschar jüngst um zwei Klassen auf knapp 220 Köpfe
angewachsen ist, vom Kindergärtler bis zur Sechstklässlerin, ist die Schule
überschaubar. Wenn der hemdsärmelige Schulleiter Gerber, ein gelernter
Zimmermann, durch das über hundertjährige Schulhaus führt, witzelt er bald mit
einem Mädchen, bald unterschreibt er auf einer Schuhablage schnell eine
Anmeldung für ein Grümpelturnier. Die grossen holzgetäferten Schulzimmer wirken
gemütlich; nur die Fenster müssen stets geschlossen bleiben, um Lärm und Abgase
von den Kindern fernzuhalten. Eine Lüftungsanlage sorgt stattdessen für frische
Luft.
Im Lehrerzimmer sitzen Betreuer und Lehrerinnen eng beieinander, an
einem Tisch, der den Raum fast ausfüllt, oder auf dem Sofa. Eine junge Lehrerin
schaut gerade mit ihrem Kleinkind zum Kaffee vorbei – an ihrem freien Tag.
Mittendrin sitzen ein Zivildienstleistender und zwei Seniorinnen. Stünde nicht
«Laus-Merkblatt» oder «Lehrplan 21» auf den Ordnerrücken im Regal, wähnte man
sich in einer grossen Wohngemeinschaft.
Preisgekröntes Konzept
Es ist Freitagmorgen, und das heisst, die Schüler dürfen nicht nur frei
wählen, womit sie sich beschäftigen wollen, sondern auch in welchem Umfeld – ob
selbständig in ruhiger Umgebung, unterstützt durch Lehrkräfte oder in einem
«Allerleiraum». In einem solchen stapeln gerade Unterstufenschüler
Holzbausteine aufeinander, andere basteln oder zeichnen. «Auch dabei lernen
sie», sagt Schulleiter Gerber.
Für ihr «3 Räume»-Projekt erhielt die Schule 2012 einen von der Stiftung
Mercator und der Pädagogischen Hochschule gestifteten Preis. Drei Jahre
später folgte der Schweizer Schulpreis des Vereins Forum Bildung
für das innovative Gesamtkonzept. Mehrmals jährlich führt der
Schulleiter Fachleute durch die Schule. An der Nordstrasse wird viel Wert
darauf gelegt, die Kinder individuell zu fördern. «Alle haben Erfolg», lautet
das pädagogische Motto. Seit 2005 lernen die Erst- bis Drittklässler und Viert-
bis Sechstklässler altersdurchmischt und auf drei Niveaustufen. «Wir holen sie
dort ab, wo sie stehen, und nicht dort, wo sie stehen müssten», erläutert
Christian Gerber.
Tagesschule, Integration und Inklusion, kompetenzorientierter und
individualisierter Unterricht: Die bildungspolitischen Schlagwörter der Stunde
werden an der Nordstrasse schon lange verfolgt. Die Bezeichnung Pionierschule
lässt Gerber gerne gelten. Widerstand gegen die neuen Ansätze habe es kaum je
gegeben: «Die Eltern waren einfach für alles dankbar.» Als Gerber 2005 anfing,
stammten rund 80 Prozent der Schülerinnen und Schüler aus sozial
benachteiligten Familien – heute sind es mehrheitlich mittelständische. Ein
Drittel der Kinder hat Deutsch nicht als erste Sprache gelernt; unter ihnen
sind aber auch solche von gut ausgebildeten Expats, wie es sie im Quartier nun
viele gibt.
Aufwertung ist da – ob mit oder ohne
Tunnel
Die Stadt Zürich im Allgemeinen und Wipkingen im Besonderen sind für
Familien wieder attraktiv. Dank der individuellen Förderung sei es im
Unterricht immer gelungen, auf die veränderten Verhältnisse zu reagieren. «Wir
haben die Lernmaterialien einfach gegen oben hin angepasst», sagt der
Schulleiter. Seit fünf Jahren ist die Schule nicht mehr Teil des Programms
Quims – kurz für Qualität in multikulturellen Schulen – und erhält die
entsprechenden zusätzlichen Mittel nicht mehr.
«Die Aufwertung ist schon lange da», konstatiert Gerber mit Blick auf
die neuerlichen Veränderungen, die der geplante Tunnel im Quartier und in der
Schülerschaft dereinst bringen könnte. Persönlich hält er es für das falsche
Projekt. «Wenn schon unterführen, dann besser direkt von Schwamendingen bis zum
Üetliberg», sagt er; der Verkehr solle ganz raus aus der Stadt. «Ob eine
lärmige Strasse da ist oder nicht, hat keinen Einfluss auf unsere Schule»,
resümiert er. «Wobei», fügt er nach einer kurzen Pause an, «vielleicht ist
gerade sie ursprünglich für die gute Qualität verantwortlich.»
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