7. März 2019

Preisgekrönte Schule an unerwartetem Ort

Wenn sich die Kinder des Schulhauses Nordstrasse auf dem Pausenplatz versammeln, braucht der Schulleiter Christian Gerber jeweils ein Megafon, um ihnen etwas mitzuteilen. Nur so kommt er gegen den Lärm an, den die unmittelbar angrenzende Rosengartenstrasse verursacht. 56 000 Autos und Lastwagen fahren täglich vierspurig über Zürichs hässlichste und dichteste Verkehrsachse. Davon scheinen die Schülerinnen und Schüler in dieser 10-Uhr-Pause wenig mitzubekommen.
Wie eine Schule mit Schallschutz und Pioniergeist der lautesten Strasse der Schweiz trotzt, NZZ, 6.3. von Lena Schenkel


Unbekümmert schiessen sie Bälle auf ein Fussballtor oder rennen einander laut rufend nach. Zuweilen übertönen sie den Verkehrslärm gar. Eine dicke Betonmauer umgibt die «Pausenhalle», wie Gerber sie nennt. In den darin eingelassenen Fenstern ist die Strasse nur ausschnittweise sichtbar. «Die Wand schützt nicht nur vor Lärm, sondern auch vor Schadstoffen», sagt er – «der Russ zieht schön oben drüber». Die gemessenen Feinstaubwerte seien immer im Rahmen. «Und das seitliche Vordach schützt vor Regen», fügt er lächelnd hinzu.

Immer das Positive zu sehen, scheint zur DNA dieser Schule zu gehören. Dass sie an dieser Lage überhaupt noch besteht, ist nicht selbstverständlich. Als 1972 die Westtangente eröffnet wird, kehren viele Familien dem Quartier den Rücken. Zu belastend sind die Lebensbedingungen geworden. Überhaupt ziehen die Menschen in den achtziger Jahren zunehmend aus der Stadt, auch und gerade solche mit Kindern. Spötter verleihen Zürich ein AAA-Rating – es steht für Alte, Ausländer und Arbeitslose. Ab 1993 gibt es für Familien mit der offenen Drogenszene am Letten noch einen Grund weniger, in Wipkingen zu wohnen. Die wenigen, die bleiben, wollen ihre Kinder lieber nicht an der lärmigen Nordstrasse einschulen und ersuchen die Stadt um Umteilung.

Tagesschule in den 1980ern
Die Kreisschulbehörde Waidberg spielt mit dem Gedanken, die Schule zu schliessen. Doch die Lehrer an der Nordstrasse wehren sich. Jetzt brauche es hier erst recht eine Schule, finden sie – und zwar eine besonders gute. Bereits 1980 ergriff das Schulteam die Initiative und gründete einen sogenannten Schülerklub, wie es ihn damals erst an drei Standorten in der Stadt Zürich gab. Das Modell garantiert jedem Schulkind eine Betreuung von 7 bis 18 Uhr. Ausserdem gibt es Kursangebote, welche für Hortkinder obligatorisch und für die übrigen freiwillig sind. Es wird gemeinsam gekocht oder gemalt, geturnt oder gebastelt. Damit sollten insbesondere Kinder aus sozial benachteiligten Familien eine «Oase der Geborgenheit» erhalten, wie es bis heute im Porträt der Schule heisst.

Obwohl die Kinderschar jüngst um zwei Klassen auf knapp 220 Köpfe angewachsen ist, vom Kindergärtler bis zur Sechstklässlerin, ist die Schule überschaubar. Wenn der hemdsärmelige Schulleiter Gerber, ein gelernter Zimmermann, durch das über hundertjährige Schulhaus führt, witzelt er bald mit einem Mädchen, bald unterschreibt er auf einer Schuhablage schnell eine Anmeldung für ein Grümpelturnier. Die grossen holzgetäferten Schulzimmer wirken gemütlich; nur die Fenster müssen stets geschlossen bleiben, um Lärm und Abgase von den Kindern fernzuhalten. Eine Lüftungsanlage sorgt stattdessen für frische Luft.

Im Lehrerzimmer sitzen Betreuer und Lehrerinnen eng beieinander, an einem Tisch, der den Raum fast ausfüllt, oder auf dem Sofa. Eine junge Lehrerin schaut gerade mit ihrem Kleinkind zum Kaffee vorbei – an ihrem freien Tag. Mittendrin sitzen ein Zivildienstleistender und zwei Seniorinnen. Stünde nicht «Laus-Merkblatt» oder «Lehrplan 21» auf den Ordnerrücken im Regal, wähnte man sich in einer grossen Wohngemeinschaft.

Preisgekröntes Konzept

Es ist Freitagmorgen, und das heisst, die Schüler dürfen nicht nur frei wählen, womit sie sich beschäftigen wollen, sondern auch in welchem Umfeld – ob selbständig in ruhiger Umgebung, unterstützt durch Lehrkräfte oder in einem «Allerleiraum». In einem solchen stapeln gerade Unterstufenschüler Holzbausteine aufeinander, andere basteln oder zeichnen. «Auch dabei lernen sie», sagt Schulleiter Gerber.

Für ihr «3 Räume»-Projekt erhielt die Schule 2012 einen von der Stiftung Mercator und der Pädagogischen Hochschule gestifteten Preis. Drei Jahre später folgte der Schweizer Schulpreis des Vereins Forum Bildung für das innovative Gesamtkonzept. Mehrmals jährlich führt der Schulleiter Fachleute durch die Schule. An der Nordstrasse wird viel Wert darauf gelegt, die Kinder individuell zu fördern. «Alle haben Erfolg», lautet das pädagogische Motto. Seit 2005 lernen die Erst- bis Drittklässler und Viert- bis Sechstklässler altersdurchmischt und auf drei Niveaustufen. «Wir holen sie dort ab, wo sie stehen, und nicht dort, wo sie stehen müssten», erläutert Christian Gerber.

Tagesschule, Integration und Inklusion, kompetenzorientierter und individualisierter Unterricht: Die bildungspolitischen Schlagwörter der Stunde werden an der Nordstrasse schon lange verfolgt. Die Bezeichnung Pionierschule lässt Gerber gerne gelten. Widerstand gegen die neuen Ansätze habe es kaum je gegeben: «Die Eltern waren einfach für alles dankbar.» Als Gerber 2005 anfing, stammten rund 80 Prozent der Schülerinnen und Schüler aus sozial benachteiligten Familien – heute sind es mehrheitlich mittelständische. Ein Drittel der Kinder hat Deutsch nicht als erste Sprache gelernt; unter ihnen sind aber auch solche von gut ausgebildeten Expats, wie es sie im Quartier nun viele gibt.

Aufwertung ist da – ob mit oder ohne Tunnel
Die Stadt Zürich im Allgemeinen und Wipkingen im Besonderen sind für Familien wieder attraktiv. Dank der individuellen Förderung sei es im Unterricht immer gelungen, auf die veränderten Verhältnisse zu reagieren. «Wir haben die Lernmaterialien einfach gegen oben hin angepasst», sagt der Schulleiter. Seit fünf Jahren ist die Schule nicht mehr Teil des Programms Quims – kurz für Qualität in multikulturellen Schulen – und erhält die entsprechenden zusätzlichen Mittel nicht mehr.

«Die Aufwertung ist schon lange da», konstatiert Gerber mit Blick auf die neuerlichen Veränderungen, die der geplante Tunnel im Quartier und in der Schülerschaft dereinst bringen könnte. Persönlich hält er es für das falsche Projekt. «Wenn schon unterführen, dann besser direkt von Schwamendingen bis zum Üetliberg», sagt er; der Verkehr solle ganz raus aus der Stadt. «Ob eine lärmige Strasse da ist oder nicht, hat keinen Einfluss auf unsere Schule», resümiert er. «Wobei», fügt er nach einer kurzen Pause an, «vielleicht ist gerade sie ursprünglich für die gute Qualität verantwortlich.»

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