20. Oktober 2017

Bei Disziplinproblemen Polizei rufen

Die Szene wäre zum Lachen, wenn sie nicht zum Weinen wäre. In einem Schulzimmer in Kentucky fesselt ein Polizist die Arme eines achtjährigen Buben mit Handschellen hinter seinem Rücken, und zwar an den Oberarmen, da die Handgelenke für die Fesseln zu dünn sind. Der Knabe hatte versucht, dem Polizisten «eine zu verpassen», hatte zuvor einen Lehrer getreten und sich geweigert, den Aufforderungen der Erwachsenen nachzukommen.
Wer soll in den Schulen für Disziplin sorgen, NZZ, 19.10. von Peter Winkler


Die American Civil Liberties Union (ACLU) klagte, und ein Bundesrichter urteilte, der Polizist habe unverhältnismässige Gewalt angewendet. Das ist für die Bürgerrechtsorganisation sicher ein schöner Erfolg. Allerdings könnte es die Ratlosigkeit in den amerikanischen Schulen noch vergrössern. Das Problem ist nämlich, dass Lehrer und Schulleiter routinemässig die Polizei rufen, wenn sie Probleme mit Schülerinnen und Schülern haben. Aus Angst, sich mit Eltern anzulegen, die sofort mit dem Anwalt drohen, oder in gewalttätige Auseinandersetzungen verwickelt zu werden, weichen die Pädagogen der Disziplinierung unbotmässiger Schüler aus. Gleichzeitig scheinen immer mehr Eltern geneigt, die disziplinarische Seite der Erziehung ihrer Kinder der Schule zu überlassen.


Laut der ACLU wurden im Schuljahr 2011/12 3,5 Millionen Schülerinnen und Schüler vorübergehend von der Schule verwiesen und verpassten dadurch 18 Millionen Unterrichtstage. Der grösste Teil von ihnen waren Schüler mit Lernbehinderungen. Es könnte auch anders gehen, wie die Redland Middle School in einem Vorort der Hauptstadt Washington zeigte. Innerhalb eines Jahres sank die Zahl jener, die ins Büro des Schulleiters zitiert wurden – die erste Stufe von Disziplinarmassnahmen –, von 1200 auf 30. Das Ei des Kolumbus: intensivere Betreuung. Das bedingt engagierte Lehrerinnen und Lehrer. Doch die Budgets der Schulbehörden sind knapp. In der gleichen Region, in der die Redland-Schule steht, müssen frischgebackene Lehrer rund 20 Jahre lang sparen, um sich die Anzahlung für ein Haus leisten zu können. Das ist nicht die beste Motivation für besonders grosses Engagement.

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