In vielen heilpädagogischen Sonderschulen des Kantons Zürich bietet sich
heute das folgende Bild: Neben geistig behinderten Kindern, die schon immer
diesen Schultyp besucht haben, finden sich häufig auch schwer geistig und
mehrfachbehinderte Kinder. Dies ist verständlich, haben doch auch sie ein Recht
auf Bildung und Förderung.
Herausforderung für die Heilpädagogik, NZZ, 22.6. Gastkommentar
von Riccardo Bonfranchi
Tatsache ist aber auch, dass diese Gruppe in den letzten Jahrzehnten
zugenommen hat. Dies hat damit zu tun, dass heute weit häufiger auch
schwerbehinderte Kinder überleben können, die früher noch gestorben wären. Auch
die Zunahme der Überlebensmöglichkeit von Frühestgeburten hat deutlich
zugenommen. Viele dieser Kinder haben eine zum Teil schwere Behinderung.
Gleichzeitig ist eine deutliche Abnahme von Kindern mit Down-Syndrom feststellbar,
dies aufgrund der pränatalen Diagnostik, die heute in der überwiegenden Zahl
der positiv diagnostizierten Fälle zu einer Abtreibung führt. Heute werden
viele geistig behinderte Kinder, insbesondere solche mit einem Down-Syndrom,
zunächst in die Regelschule integriert. Viele dieser Kinder werden dann, wenn
sie etwas älter geworden sind, in eine heilpädagogische (Oberstufen-)Klasse
eingeschult.
Die Bandbreite an unterschiedlichen Schülern und Schülerinnen in der
heilpädagogischen Sonderschule hat sich in den letzten Jahren aber vor allem
auch deshalb dramatisch vergrössert, weil auch sogenannt
lernbehindert-verhaltensauffällige Schüler häufiger in diese Schulen kommen,
die eigentlich für geistig behinderte Kinder und Jugendliche eingerichtet
worden sind.
Eine Klasse an einer heilpädagogischen Schule im Kanton Zürich sieht
heute also beispielsweise wie folgt aus. Gehen wir von einer Klasse mit acht
Schülerinnen und Schülern aus: Zwei der acht Schüler sind schwer geistig und
mehrfachbehindert, sie verfügen über keine Lautsprache und bewegen sich auf dem
entwicklungspsychologischen Niveau eines Kleinkindes unter zwei Jahren. Zwei
weitere Schülerinnen sind schwer geistig, aber nicht mehrfachbehindert. Ihr
Entwicklungsniveau entspricht etwa der Kindergartenstufe. Zwei weitere Schüler
sind nur leicht geistig behindert und wären früher vielleicht in eine
Kleinklasse eingeschult worden. Die letzten zwei der acht Schüler sind nicht
geistig behindert, aber verhaltensauffällig. Sie bewegen sich selbständig in
der Gemeinde, benutzen öffentliche Verkehrsmittel, fahren vielleicht Mofa,
hatten aber eventuell auch schon diverse Kontakte mit der Polizei wegen
Vandalismus und Sachbeschädigung oder Ähnlichem.
Diese acht Schüler besuchen nun also in unserem Beispiel die gleiche
Klasse an einer heilpädagogischen Schule. Wie aber sieht der Unterricht in
einer solcherart durchmischten Klasse aus? Über welche Qualifikationen muss die
verantwortliche Lehrkraft verfügen, um all den verschiedenen Bedürfnissen
gerecht werden zu können? Ist dies überhaupt zu leisten? Und: Ist den
verantwortlichen Stellen bei der Bildungsdirektion und in der Politik bekannt,
dass hier solch massive Unterschiede in den Bildungsniveaus vorhanden sind, die
ein befriedigendes Fordern und Fördern kaum noch möglich machen?
Es gibt wohl keinen anderen Schultyp in unserer Schullandschaft, der so
heterogen zusammengesetzt ist wie eine Klasse an einer heilpädagogischen
Sonderschule.
Es stellt sich deshalb die Frage, ob hier allenfalls eine
Bagatellisierung bzw. Trivialisierung von Behinderung geschieht. Es werden
sowohl die schwer geistig und mehrfachbehinderten Schüler wie auch die
lernbehindert-verhaltensauffälligen Schüler nicht für voll genommen. Es wäre
möglicherweise sinnvoll, die sogenannten Kleinklassen wieder einzuführen, wie
dies in den Kantonen Aargau und Graubünden erwogen und teilweise umgesetzt
worden ist. Zwar sind Klassen an heilpädagogischen Schulen auch Kleinklassen.
Die Heterogenität der Entwicklungs- und Bildungsniveaus an heilpädagogischen
Schulen ist aber didaktisch und bildungspolitisch nicht akzeptabel.
Riccardo Bonfranchi ist als selbständiger Fachberater und Supervisor im
heilpädagogischen Bereich tätig.
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