Eine
Primarschule im Baselbiet: Die Drittklässlerin Marisa ist am Mittag zu einem
Geburtstagsfest eingeladen. Am Morgen bringt sie deshalb ein Geschenk für ihre
Freundin mit. Als ihre Mitschülerinnen und Mitschüler das sehen, sagen sie zum
Geburtstagskind: «Wenn Marisa kommt, kommen wir alle nicht.»
Das
Geburtstagskind lädt Marisa wieder aus. Die beiden Mädchen sind Nachbarinnen,
sie spielen oft zusammen. Am Nachmittag sieht Marisa von daheim aus die anderen
Kinder am Fest. Sie rufen: «Marisa, komm doch einmal rüber.» Als Marisa dort
ist, sagen sie: «Aätschbätsch, mit dir wollen wir nicht spielen.»
Marisas
Kindheit ist voller Tränen. «Warum will niemand meine Freundin sein, was stimmt
nicht mit mir?» fragt sie sich, wenn die Kinder wieder «blöde Kuh» rufen oder
sie nicht beachten.
Schweizer gegen Ausländer ist nicht Mobbing
Was Marisa
erlebt, ist Mobbing. Mobbing ist ein Modewort, heute nimmt man es schnell in
den Mund: Basler Eltern vergleichen oft Schulhäuser, zählen die Quartiere auf,
in denen es mehr Mobbing gibt. Eine oft gehörte These: je mehr Ausländerkinder,
desto mehr Mobbing.
Konflikte
zwischen Nationen gibt es tatsächlich. «Die Schweizer fühlen sich als etwas
Besseres, weil sie bessere Noten haben», erzählt ein Sekschüler. «Deswegen
gab's auch schon Schlägereien.» Doch ein Streit zwischen Schweizern und, sagen
wir, Kurden, ist kein Mobbing. Das ist ein Konflikt, einer gegen einen oder
Gruppe gegen Gruppe. Früher gab es ähnliche Streitereien zwischen Realschülern
und Gymnasiasten – die mit Bildungshintergrund gegen die ohne. Doch das sind
«normale» Konflikte.
Alle gegen einen, das ist Mobbing
Mobbing ist
etwas anders: alle gegen eine, eine Clique, eine Klasse gegen ein Kind. Es wird
von allen ausgelacht, angespuckt oder rumgeschubst. Und das nicht nur einmal,
sondern systematisch, jede Woche und das über mehrere Wochen bis Monate.
Gemäss einer Übersichtsstudie
aus Deutschland wird
jedes zehnte bis zwanzigste Kind gemobbt. Und sogar jedes fünfte Kind soll
gemäss einer Schweizer Umfrage von letztem Jahr schon
mal in den sozialen Netzwerken fertig gemacht worden sein. Ein Basler Seklehrer
sagt: «Mobbing ist für mich eine grosse Herausforderung. Es passiert unter
meiner Nase, ständig.» Und auch eine Sozialarbeiterin sagt: «Ich hatte so viele
Fälle, ich kann sie gar nicht zählen.»
Es kann jedes
Kind treffen. Lehrer und Schüler sagen zwar oft, das Opfer trage Mitschuld, es
habe sich sonderlich oder besonders nervig verhalten. Die
Entwicklungspsychologin Françoise Alsaker sagt etwas anderes. Sie hat Jahre
lang Mobbing in Kindergarten und Schule erforscht und kam zum Schluss: «Jedes Kind
kann Opfer werden.» Kinder, die gemobbt werden, unterscheiden sich häufig nicht
von solchen, die nicht gemobbt werden.
Beim Opfer
hinterlässt das Spuren. Gemäss einer britischen Studie erkranken Kinder, die gemobbt wurden,
dreimal häufiger an Depressionen. Andere Studien bestätigen das Fazit. Und es
hört mit der Kindheit nicht auf, auch als Erwachsene haben ehemalige
Mobbingopfer häufiger Suizidgedanken und Angststörungen.
«Niemand mag mich»
Auch Marisa hat
lange an ihrer Mobbingkindheit genagt. Sie ist jetzt Mitte 40, verheiratet und
Mutter von drei Kindern. Jahrelang litt sie unter Selbstzweifeln und
Depressionen. «Wenn du dauernd hörst, dass du nichts wert bist, glaubst du,
dass du nichts wert bist.» Heute hat sie Freundinnen, nicht viele, aber gute. Doch
wenn eine Freundin mal keine Zeit hat, fürchtet Marisa immer noch: «Die will
sicher nicht mehr meine Freundin sein.»
Marisas
Geschichte ist aber noch nicht zu Ende. Als ihre jüngere Tochter in den
Kindergarten kommt, passiert es. Eines Nachmittags kommt sie weinend nach Hause
gerannt: «Niemand mag mich, alle lachen mich aus und ich habe keine Freundin.»
Am nächsten Morgen möchte Sandra nicht mehr in den Kindergarten. So geht es
weiter, tagein, tagaus. Sandra wird ausgeschlossen, Sandra ist traurig. Während
der ganzen Primarschulzeit.
Marisa sucht
das Gespräch mit den Lehrern. Diese glauben, Sandra wäre ein bisschen dumm. Sie
stellt so viele Fragen, sie fragt lieber fünf Mal nach, statt etwas falsch zu
machen. Die Kinder sagen: «Warum tust du immer so blöd, du bist doch dumm», die
Lehrer schicken sie in den Förderunterricht – trotz guter Noten.
Marisa
versucht, ihrer Tochter Hoffnung zu geben, sie sagt: «Sandra, wenn du aus der
Schule raus bist, wirst du Freundinnen haben. Es gibt auf dieser Welt Menschen,
die nur darauf warten, eine Person wie dich kennenzulernen.»
Es gibt Lösungen
Wenn ein Kind
jahrelang gemobbt wird, ist das eine Katastrophe. Doch heute gibt es Konzepte,
wie man Mobbing in der Schule stoppen kann. Sie haben verschiedene Namen,
funktionieren aber alle nach ähnlichem Prinzip: Schulleitungen und Lehrpersonen
müssen das Mobbing ansprechen und klarmachen, dass sie es nicht tolerieren.
Klingt simpel?
Ist es nicht.
Es geht darum, die Dynamik in der Klasse aufzubrechen. Mobbing funktioniert
meist nach demselben System: Ein Anführer oder eine Anführerin hetzt gegen ein
Kind, die anderen ziehen mit. Um das zu stoppen, muss man die Mitläufer dazu
bringen, nicht mehr mitzumachen. Wenn es keine Mitläufer gibt, gibt es auch
kein Mobbing.
Das
funktioniert, wie Evaluationen zeigen. Schulen, die aktiv etwas gegen
Mobbing tun, reduzieren es um 20 Prozent; je intensiver sie dran sind, desto
besser die Resultate. Das deckt sich mit der Erfahrung von Lara Springer. Als
Sozialarbeiterin an Basler Schulen unterstützt sie Kinder und Lehrpersonen in
Mobbingsituationen. Aus Gründen der Schweigepflicht hat sie die Namen geändert,
auch ihren eigenen.
Es liegt an der Klassenführung
In Basel gibt
es zwar kein fest installiertes Antimobbingprogramm, das für alle Schulzimmer
gälte, doch viele Lehrerinnen und Lehrer sind sensibilisiert und können sich
bei Bedarf individuell Unterstützung von Fachpersonen holen. In jeder Primar-
und Sekundarschule hat es Sozialarbeiter, ausserdem gibt es die
Krisenintervention, den Schulpsychologischen Dienst oder die Präventionsstelle
der Polizei.
Im Baselbiet
ist es ähnlich. Lehrpersonen können sich bei Bedarf an den Schulpsychologischen Dienst wenden, er bietet Beratungen und
Interventionen in betroffenen Klassen an. Ausserdem führt er Weiterbildungen
für Schulleitungen und Lehrpersonen durch. «Wir unterstützen sie darin, ihre
Klassenführung so anzupassen, dass Mobbing verhindert wird», sagt der Leiter
des Schulpsychologischen Dienstes, Thomas Blatter.
Das setzt
natürlich voraus, dass Lehrer oder Eltern realisieren, was vor sich geht, und
dass sie handeln wollen. Wie man von Lehrerinnen und Lehrern hört, gibt es
Kolleginnen und Kollegen, die das besser können als andere. Solche, die einen
provozierenden Blick oder eine Stimmung in der Klasse richtig einschätzen und
darauf zu reagieren wissen. Und solche, die wegen Plagereien nicht Deutsch
ausfallen lassen möchten, um stattdessen die Schüler ins Gebet zu nehmen. Nicht
jeder hat dieselben Fähigkeiten und setzt dieselben Schwerpunkte, das ist
menschlich. Die meisten Lehrpersonen sind aber engagiert, und wenn etwas
passiert, finden sie häufig eine Lösung.
«Du stinkst»
Schulsozialarbeiterin
Springer weiss nicht mehr, wie viele Mobbingfälle sie begleitet hat, es
waren viele. Zusammen mit den Lehrpersonen konnte sie die meisten lösen.
Da war zum
Beispiel der Fall des zehnjährigen Leo. Er werde geplagt, sagte sein Lehrer der
Schulsozialarbeiterin, ein typischer Fall von «Auslachklasse». Wenn Springer
«Auslachklasse» hört, weiss sie, es herrscht Handlungsbedarf. Dann ist die
Dynamik schon ziemlich eingespielt, alle warten nur darauf, andere
hochzunehmen. Das Problem in dieser Klasse: Leo ist schlau, sehr schlau. Die
anderen Schüler nehmen das zum Anlass, ihm zu sagen: «Du stinkst.»
Bei einer
Schulaufführung artet es aus, niemand will mit Leo zusammen eine Szene spielen.
Das Kind, das verdonnert wird, bricht in Tränen aus. Der Lehrer bespricht sich
mit der Schulsozialarbeiterin, zusammen planen sie eine Intervention. Der
Klassenlehrer sagt zu den Kindern: «Ich weiss, dass in dieser Klasse Kinder
geplagt werden, und das hört jetzt sofort auf, sonst muss ich mit euren Eltern
reden. Ich habe deshalb Frau Springer eingeladen, sie wird euch dabei helfen,
euer Verhalten zu ändern.»
Leo findet Freunde
Springer hält
einen kurzen Input zum Thema Mobbing, die Kinder beteiligen sich hochmotiviert
– keines möchte, dass die Eltern informiert werden. Danach führt Springer
jede Woche Gespräche mit verschiedenen Schülerinnen und Schülern, fragt nach
ihrem Wohlergehen und gibt dem Lehrer Rückmeldungen.
Ausserdem
arbeitet sie mit Leo Strategien aus, wie er seine Position verbessern könnte.
Er hat die Idee: «Ich könnte anderen bei den Hausaufgaben helfen.» Das geht
auf, das Mobbing hört auf und Leo findet Freunde in der Klasse. Seine Eltern
werden auch einbezogen.
Andere
Sozialarbeiter formulieren mit den Schülern Verträge, in denen sie Regeln des
gemeinsamen Umgangs aufstellen. Auch das funktioniert. Die wichtigste Botschaft
lautet: «Wir tolerieren Mobbing nicht.»
Brutaler Katalysator Internet
Anspruchsvoller
wird es, wenn es um Cybermobbing geht, also Mobbing in den sozialen Netzwerken.
Das liegt an der ungemeinen Menge von Nachrichten. Die Kinder tauschen sich
über Klassenchats aus, das sind Foren, in denen Kinder der ganzen Klasse oder
sogar noch grösserer Gruppen Mitglied sind. Wenn ein Kind sein Handy um 21 Uhr
weglegt, hat es morgens um sieben Uhr unter Umständen Hunderte von Nachrichten.
Wenn ein Kind
auf Facebook schreibt: «Guckt mal, wie Barbaras T-Shirt ihre Speckfalten
zusammendrückt», haben das innert Minuten unter Umständen 200 Kinder gesehen.
Und zwei schreiben vielleicht noch darunter: «Die kriegt sowieso nie einen ab»
oder «hast du ihre fettigen Haare gesehen?»
Inhaltlich ist
Cybermobbing ähnlich wie das Plagen auf dem Schulhof. Aber die Wirkung ist viel
grösser, da viel mehr Kinder mitmachen oder es zumindest passiv mitkriegen. Und
was im Internet anfängt, geht oft auf dem Pausenplatz weiter. «Manchmal fühle
ich mich einfach machtlos dagegen», sagt eine Lehrerin.
Erster Schritt: Anzeige
Die Stiftung
Elternsein hat soeben eine Kampagne mit
dem Titel «Wenn Worte weh tun» lanciert. In einem Video will sie darauf
aufmerksam machen, wie schmerzhaft Cybermobbing für die Betroffenen ist.
VIDEO
B ei Cybermobbing
kann der erste Schritt eine Anzeige gegen die Täter sein. «Man muss den Kindern
manchmal einfach Konsequenzen aufzeigen», sagt Schulsozialarbeiterin Springer.
«Sie wollen wissen, was passieren könnte.»
Wie im Fall
einer dritten Klasse. Ein Schüler fordert alle im Klassenchat auf, einen
anderen nach der Schule abzupassen und zusammenzuschlagen. Ein zweiter filmt
die Prügelei und stellt den Film in den Chat. Die Schulleitung droht den Tätern
mit Schulausschluss, sollte sich das Verhalten nicht ändern. Die
Schulsozialarbeiterin berät die Eltern der Täter und begleitet die Klasse
wiederum mit wöchentlichen Gesprächen, um sicherzugehen, dass das Mobbing
aufgehört hat. Auch hier ist das Ende ein Gutes: Opfer und Täter kommen heute
wieder gut miteinander aus.
Schulwechsel: Mobber finden neues Opfer
Auch für Marisa
und Sandra gibt es ein Happy End. Eines Tages reisst bei Marisa der Faden, sie
merkt, dass sie in der Dorfschule nicht weiterkommt. Also schickt sie ihre
Tochter in die Privatschule für offenes Lernen (SOL) in Liestal. Und tatsächlich: Dort
findet Sandra Anschluss. Häufig ruft sie nach der Schule daheim an und fragt,
ob sie noch mit ihren Freundinnen abmachen darf.
Doch für
Sandras alte Klasse änderte sich nichts. Als Sandra weg ist, suchen sich die
Mobber einfach ein anderes Opfer. Auch dieses wechselt die Schule. Das ist
typisch für Mobbingklassen und zeigt: Oft geht es den Mobbern nicht um die Person,
es geht ihnen ums Plagen.
Woher kommt
dieser Wunsch, andere zu quälen?
Georg Römmelt
hat viele Erfahrungen mit Mobbing an Schulen gemacht, er arbeitet seit Jahren
an der Sekundarschule Bäumlihof als Lehrer für Gestaltung und Projekte. Aus
seiner persönlichen Sicht ist es ganz natürlich, dass Kinder sich aggressiv
verhalten. Dazu kann das Notensystem beitragen. «Es bewertet die Schülerinnen
und Schüler und schafft eine Konkurrenzsituation mit Gewinnern und Verlierern.»
In der Schule fängt an, was im Arbeitsleben nachher weitergeht: der Kampf
darum, der Stärkste und Beste zu sein. Da gibt es zwangsläufig Kinder, deren
Leistung als ungenügend bewertet wird. «Jugendliche, die neun Jahre lang hören,
was sie alles nicht können, haben ein angegriffenes Selbstbewusstsein.» Mobbing
kann eine vermeintliche Strategie sein, um das Selbstbewusstsein zu
stärken.
Befriedigender Unterricht
Georg Römmelt
hat deshalb eine Art von Unterricht entwickelt, die seinen Schülern besser
entspricht: «Wenn Schüler nur für die Note lernen, sind sie frustriert.»
Er ermöglicht seinen Schülern deshalb, selber Projekte auszusuchen und zu
bearbeiten. So bastelt ein Schüler einen Papierkorb für sein Schlafzimmer, der
andere baut ein Schuhgestell für den Eingangsbereich zu Hause. Ausserdem
pflanzt Römmelt mit ihnen auf einem Acker vor dem Schulhaus Gemüse und Blumen
an. Die Schüler haben den Acker mitgeplant, gebaut und alte Werkzeuge
restauriert. Sie entwerfen ihre Projekte selber, Römmelt unterstützt sie, wo
sie ihn brauchen. Für ihn ist klar: «Schüler erfahren so Sinn und Befriedigung.
Wer zufrieden ist, ist friedlich. Da bleibt wenig Energie für Mobbing.»
Ausserdem
benotet Römmelt seine Schüler transparent. Statt ihnen zu sagen, wo ihre Mankos
liegen, fragt er: «Was brauchst du, damit du einen Lernschritt weiter kommst?»
Er möchte ihnen die Botschaft mitgeben: Es geht nicht um die Beurteilung,
sondern darum, etwas zu lernen, das euch sinnvoll erscheint. So können sie
die Erfahrung machen: Fehler sind Teil des Lebens. Man darf Fehler machen, um
weiterzukommen, und muss nicht Angst vor ihnen haben. «Angst ist der grösste
Lernhemmer, deshalb setze ich auf Zusammenarbeit statt auf Konkurrenz.»
Es ist eine
alte These: Man geht davon aus, dass die Menschen grundsätzlich gut zueinander
sind. Doch wenn man sie in einen Zwinger mit Kampfhunden steckt, werden sie
selber zu Kampfhunden, um nicht zerfleischt zu werden. Wenn man ihnen
allerdings Wege aufzeigt, Aggressionen auf gesunde Weise abzubauen und
zusammenzuarbeiten, werden aus potenziellen Kampfhunden Partner.
Auch Mobber leiden
Allerdings gibt
es Kinder, bei denen das schwieriger ist. Françoise Alsakers Forschung zeigt,
dass Mobbinganführer weniger Mitgefühl haben als andere Kinder. «Warum das so
ist, wissen wir nicht», sagt die Wissenschaftlerin. Doch auch sie profitieren
davon, wenn man sie stoppt. US-Wissenschaftler untersuchten mehr als 1400 junge
Erwachsene, die im Alter zwischen 11 und 16 Jahren geplagt wurden oder selber
plagten. Das Fazit: Auch Kinder, die selber gemobbt haben, haben ein erhöhtes
Risiko, psychisch krank zu werden.
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