Liebe Eltern
schulpflichtiger Kinder,
Wenn Sie
diese Kolumne lesen, werde ich mein 41.Schuljahr als Lehrer in Angriff genommen
haben. Natürlich hat sich während all dieser Jahre in meinem Arbeitsumfeld viel
verändert und dabei ist es mir auch nicht entgangen, dass Sie, liebe Eltern,
der Schule und dem Schulerfolg Ihrer Kinder mehr Bedeutung zukommen lassen, als
dies meine Eltern taten. Damit eine nicht allzu sorgenvolle Zeit für sie
anbricht, möchte ich Sie zu Beginn dieses Schuljahres auf einige Katastrophen
hinweisen, die ich als Schüler überlebt habe. Es soll Ihnen, liebe Leserinnen
und Leser, bei all den kommenden Problemen zu mehr Gelassenheit verhelfen.
Zum Schulanfang, Bieler Tagblatt, 15.8. von Alain Pichard
1. Velotouren ohne Velohelm
2. Masern, Röteln, Scharlach ohne Impfung
3. OL in einem Zeckengebiet ohne
Warnbrief und Kleidervorschriften.
4. Eine Zeugnisnote „3“ im Fach
Mathematik ohne Diskalkuliediagnose und Förderplan
5. Den tödlichen Herzinfarkts meines
Klassenlehrers auf einer Schulreise ohne psychologische Nachbetreuung.
6. Ein nicht gelerntes Diktat mit 30
Fehlern und einer „1“ ohne späteren Nachteilsausgleich und Spezialförderung.
7. Die Aufsatzkorrekturen des Herrn Dr.
Wehrle: „Es war eine Zumutung so etwas zu korrigieren“ ohne Verlust des eigenen
Selbstwertgefühls.
8. Schwimmen im Rhein ohne einen Betreuer
mit Lebensretterbrevet.
9. Den Alkoholausschank am
St.Johanns-Fest als 12-jähriger ohne polizeiliche Nachuntersuchungen.
10. Den Physikunterricht des Dr. Würgers,
des strengstens Lehrers des letzten Jahrhunderts, ohne Erschöpfungssyndrom.
11. Das Auswendiglernen von „Schillers
Glocke“ ohne Überlastungssyndrom
12. Den Kinnhaken meines Klassenlehrers
Rigling in der 4. Klasse ohne nachfolgende Anzeige meiner Eltern. Er hatte sich
vorher brieflich entschuldigt und die zerbrochene Brille bezahlt!
13. Einen Boxkampf während einer
Museumsführung in Augusta Raurica mit meinem Erzfeind Karl Kuske ohne
nachherigen Gang zum Schulpsychologen.
14. Der Verrat meines Schulschätzchens
Kathrin, die sich besagtem Karl Kuske anschloss, ohne dass Mobbingvorwürfe
erhoben wurden.
15. Eine Freizeitgestaltung ohne
Jugendarbeit.
16. Den Unterricht in einem Klassenzimmer
mit 32 SchülerInnen ohne Speziallehrkraft.
17. Mindestens zehn Schuljahre ohne
Schulreform
18. Den Rauswurf aus dem Gymnasium wegen
zu vieler Absenzen, ohne dass meine Eltern Rekurs einlegten.
19. Ein halbes Jahr Arbeit im Schlachthof
Basel plus Einstellung aller Zahlungen, zu dem mich mein Vater nach dem
Rauswurf aus dem Gymnasium verdonnert hat, ohne anschliessendes Burnout
20. Ein Leben ohne Matur ohne gravierende
Spätfolgen
Ich hatte
übrigens eine sehr schöne Schulzeit.
Zur Kolumne von Alain Pichard ist am 15. Juli im Bieler Tagblatt folgender Leserbrief erschienen:
AntwortenLöschenIch habe die einzigartige Kolumne von Alain Pichard ausgeschnitten, so wie ich auch alle bisherigen gesammelt habe. Eigentlich wäre dies eine Pflicht für alle Eltern mit schulpflichtigen Kindern, dasselbe zu tun. Diese Kolumne an die Pinnwand, Magnettafel oder Kühlschranktüre zu heften, wo sie, immer präsent, zum Nachlesen bereit steht. Wenn dann die Kinder nicht den Erwartungen der Eltern entsprechen, die geforderte Leistung nicht erbringen können oder sich «daneben» benehmen, sollten die Eltern in aller Ruhe das Angeheftete nachlesen und nachdenken. Bevor sie «Massnahmen» gegen Schule und Lehrer planen, um zu ihrem «Recht» zu kommen. Denn Alain Pichard hat mit viel Witz und verdeckter Ironie wieder einmal aufgezeigt, was im Schulbetrieb alles schief läuft, uns einen Spiegel vorgehalten. Dass nicht unbedingt die Uni nö- tig ist, um im Leben erfolgreich zu sein. Es war sicher nicht leicht, dies in den 20 aufgeführten Punkten so humorvoll darzulegen. Einzig Punkt 21 hat mir gefehlt. Ich nehme an, er hat, so wie ich viermal pro Tag zwei Kilometer zu Fuss, seinerzeit auch den Schulweg zu Fuss, mit dem Velo oder ÖV zurückgelegt. Wurde nicht mit dem Auto zur Schule gekarrt. Und hat in der täglichen Gemeinschaft mit seinen Mitschülern ganz automatisch und gratis die heute so stark geforderte Sozialkompetenz erworben. Ich gehe mit Martin Bühler aus Studen (Leserbrief im BT vom 16. Juli) einig, auch ich lebe noch, mit 83 Jahren und ähnlichen Erfahrungen! Alain Pichard, herzlichen Dank für den Artikel und für die bisherigen Kolumnen. Ich hoffe, es kommen noch viele dazu. Peter Sidler