Schweizer Kinder schreiben gut – solange es nicht um Buchstaben geht, die
man beim Sprechen nicht hört. Dies zeigt eine Studie der Uni Freiburg.
Rechtschreibeschwäche: Am Dialekt liegt es nicht, Bild: Jan Leidicke
Schweizer Kinder machen deutlich mehr Fehler als deutsche und österreichische, Aargauer Zeitung, 10.8. von Sabine Kuster
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Schweizer und deutsche Kinder können gleich
gut lesen, die österreichischen etwas weniger gut. Das hat die Pisa-Studie 2012
ergeben. Die Schweiz war damals erleichtert: Nur noch 13,7 Prozent der Schüler
im Land wurden beim Leseverständnis als leistungsschwach klassiert. Beim ersten
Test im Jahr 2000 war der Anteil mit 20,4 Prozent viel höher gewesen, man
sprach vom «Pisa-Schock».
Doch wie gut die Schüler schreiben,
untersucht die Pisa-Studie nicht. Ob die Rechtschreibfähigkeit der Kinder in
der Schweiz ab- oder zunimmt, weiss keiner. «Seit Jahrzehnten wurden solche
Daten nicht mehr erhoben», sagt Monika Brunsting vom Verband Dyslexie Schweiz.
Jetzt gibt es Indizien, dass die
Primarschüler in der Deutschschweiz beim orthografischen Schreiben weniger
sattelfest sind als jene in Deutschland und Österreich: Im deutschsprachigen
Teil des Kantons Freiburg wurde die Rechtschreibkompetenz von 1650
Primarschülern untersucht. Die Logopädinnen des Regionalen Schuldienstes
stützten sich dabei auf den neu normierten deutschen Rechtschreibtest
«Hamburger Schreibprobe». Die Uni Freiburg unter der Leitung von Professor
Erich Hartmann analysierte die Daten. Die Studie ist fast fertig, aber noch
nicht veröffentlicht.
UMFRAGE
Die Bilanz ist schon klar: «Beim Schreiben
von Wörtern mit orthografischen Besonderheiten wie Dehnungen, Verdoppelungen
oder ‹tz› schnitten die Freiburger Kinder bereits ab der 2. Klasse
signifikant schwächer ab als die deutschen», sagt Erich Hartmann. Dabei sind
die Kinder offenbar keineswegs weniger sprachaffin, denn beim lautgetreuen
Schreiben, also bei Wörtern ohne Besonderheiten, übertrafen die Freiburger auf
allen Klassenstufen die deutschen Kinder.
Deutscher
Standard zu streng
Es könnte nun sein, dass die untersuchten
Freiburger Primarschüler einfach schlechter in der Rechtschreibung sind als der
Rest der Deutschschweiz. Doch ein weiteres Indiz spricht für ein überregionales
Phänomen: Wenn Schweizer Logopädinnen und Psychologen herausfinden wollen, wie
stark ihre Klassen in Rechtschreibung sind und ob eventuell Legastheniker
darunter sind, dann benutzen sie oft den Salzburger Lese- und Rechtschreibtest
(SLRT).
Dies ist ein normierter Vergleichstest wie
die Hamburger Schreibprobe. Doch die Logopädinnen und Psychologen verwenden
nicht die Original-Version, sondern eine Schweizer Adaption. Diese wurde von
2011 bis 2014 im Kanton Bern erarbeitet und ist in der Neuauflage des SLRT
abgedruckt.
Diese Berner Normen, die inzwischen
Schweizer Normen genannt werden, sind weniger «streng». Mit den Original-Normen
schnitten mehr als 10 Prozent der Berner Kinder zu schwach ab, jetzt stimmt die
Balance wieder.
«Aufgrund von Rückmeldungen aus der Praxis
von Heilpädagoginnen und Heilpädagogen merkten wir, dass sich die Salzburger
Normen zum Rechtschreibteil für die Berner Schülerinnen und Schüler nicht
eignen», sagt Caroline Sahli Lozano von der Pädagogischen Hochschule Bern.
Unter ihrer Leitung und jener von David Schmid von den
Erziehungsberatungsstellen des Kantons Bern wurden die Normen erfasst. «Anhand
einer grossen Stichprobe, die den ganzen Kanton Bern repräsentiert», wie Sahli
sagt.
Für die Kantone war die Anpassung wichtig.
Denn wer zu schlecht abschneidet, gilt als rechtschreibschwach und hat Anrecht
auf Förderung. Mit der strengeren Norm hätten plötzlich viel mehr Schüler
gefördert werden müssen – ein finanzielles Problem für die Kantone.
Am
Schweizerdeutsch liegts nicht
Die Freiburger Studie zur Hamburger
Schreibprobe und die repräsentative Stichprobe im Kanton Bern zum Salzburger
Test zeigen beide: Schweizer Kinder machen mehr orthografische Fehler beim
Schreiben.
Liegt es daran, dass die Schweizer mit
einem ausgeprägten Dialekt aufwachsen? «Nein, Dialekte haben keinen negativen
Einfluss auf die Rechtschreibfähigkeit», sagt Sahli Lozano, «im Gegenteil
nutzen generell Kinder, welche einen Dialekt sprechen, das Hochdeutsche viel
bewusster und schneiden eher besser ab.» Dieser Effekt zeigt sich auch in
Regionen mit ausgeprägten Dialekten in Deutschland und Österreich. Er erklärt
ein Stück weit auch, warum die Freiburger Schüler im lautgetreuen Schreiben
besser waren.
Sie pauken
zu wenig
Was also ist dann der Grund für die
schwächeren orthografischen Leistungen der Schweizer Kinder? Sahli Lozano kann
nur mutmassen: «Möglicherweise sind die Rechtschreiblehrmittel eher auf die
Schreibkreativität und -motivation fokussiert. Um diese nicht zu stören, wird
die Rechtschreibung vielleicht weniger beachtet.»
Diese Vermutung teilt Erich Hartmann von
der Uni Freiburg: «Es liegt wohl primär am Unterricht und an den Lehrmitteln»,
sagt er. «Wenn das lautorientierte Schreiben und das freie Schreiben im
Vordergrund stehen, so geht dies auf Kosten der Orthografie.»
Die Lehrerinnen auf der Unterstufe in der
Schweiz haben eher die Einstellung, dass man die Rechtschreibung auch später
noch büffeln kann. Doch Hartmanns Studie zeigt, dass die Freiburger Schüler in
dieser Hinsicht auch in der 6. Klasse noch klar schwächer abschnitten als
die deutschen Schüler. Bemerkenswerterweise schrieben von den 4.- bis
6.-Klässlern 30 bis 45 Prozent noch stark lautgetreu statt orthografisch
korrekt.
«Es ist wahrscheinlich vor allem ein
didaktisches Problem», sagt Hartmann. «Die Orthografie wird wohl zu wenig
intensiv und systematisch geübt.» Die Kinder spontan schreiben zu lassen, sei
schon gut für die Motivation und das Formulieren, aber die korrekte,
orthografische Schreibweise eignen sich viele Kinder offenbar nicht automatisch
an. Oder zumindest nicht genügend.
Die beiden Experten sind vorsichtig. Sahli
Lozano bemerkt: «Wo genau der Fokus des Rechtschreibunterrichts in Deutschland
liegt, ist uns nicht bekannt.» Dies gilt laut Hartmann auch für den hiesigen
Unterricht: «Es ist bloss meine Vermutung, belegt ist nichts.» Doch er sagt
auch: «Eine plausiblere Erklärung sehe ich im Moment nicht.»
Vielleicht war in den Testklassen der
Anteil an Kindern mit einer anderen Muttersprache leicht unterschiedlich. Doch
Kristina Moll, Co-Autorin des SLRT, sagt: «Verschiedene Studien haben gezeigt,
dass bei der Rechtschreibung die mehrsprachigen Kinder die Bilanz nicht stark
beeinflussen.»
Wars
früher besser?
Bemerkenswert ist, dass Solothurner Schüler
bei einem anderen Vergleich mit der Hamburger Schreibprobe vor 16 Jahren noch
ähnlich gut wie die deutschen abschnitten. Die beiden Studien im Kanton
Freiburg und im Kanton Solothurn waren zwar nicht identisch, aber die Frage
drängt sich auf: Wurde die Rechtschreibung in den letzten Jahren hierzulande
vernachlässigt? Hartmann sagt: «Wir müssen weiter forschen.» So oder so mache
es aber Sinn, der Rechtschreibfähigkeit der Schulkinder mehr Aufmerksamkeit zu
schenken.
«Nein, Dialekte haben keinen negativen Einfluss auf die Rechtschreibfähigkeit», sagt Sahli Lozano, «im Gegenteil nutzen generell Kinder, welche einen Dialekt sprechen, das Hochdeutsche viel bewusster und schneiden eher besser ab.» Erinnern wir uns noch an die Abstimmungen über Mundart im Kindergarten? Dort haben die "Spezialisten" in den PH ganz anderes verlauten lassen.
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