Der Jugendliche schreibt so ungelenk, dass man seine Texte kaum
entziffern kann. Prompt fällt er bei der Aufnahmeprüfung für das Gymnasium
durch. Schon vor der Prüfung verlangte der Vater vergeblich, dass sein Sohn
diese mithilfe eines Computers absolvieren darf. Er kämpft bis vor
Bundesgericht und erhält recht: Die Richter ordnen aufgrund der sogenannt
visuomotorischen Störung des Jugendlichen eine Wiederholung in den Fächern
Deutsch und Französisch an – mit einem Computer als Schreibhilfe.
Nachteilsausgleich nennen sich solche Massnahmen, mit denen Behinderungen
kompensiert werden. Das können Hör- oder Sehbehinderungen sein, aber auch
weniger klar messbare Handicaps wie Dyslexie und Legasthenie (Lese- und
Schreibschwächen), Dyskalkulie (Rechenschwäche) oder
Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADHS). Als Kompensation dürfen die Betroffenen
je nachdem länger an ihren Prüfungen arbeiten, dazu beruhigende Musik hören
oder ein Wörterbuch oder Taschenrechner beiziehen. Basis für diese Massnahmen
ist das Behindertengleichstellungsgesetz.
Die Tendenz zu solchen Sonderregelungen ist steigend. Dies ergibt eine
noch laufende Erhebung der Hochschule für Heilpädagogik (HfH) bei Berufsschulen
und Mittelschulen: «Bei einer ersten Analyse zeigt sich, dass es eine Zunahme
der Nachteilsausgleiche in der ganzen Schweiz gibt», sagt Pia Georgi,
Wissenschaftliche Mitarbeiterin der HfH.
Bis zu fünfmal mehr Fälle
Der Kanton St. Gallen etwa verzeichnete 2011 noch 33 Anträge, vier Jahre
später waren es bereits deren 144. In Bern verdoppelten sie sich von 2012 bis
2015 auf 215 Anträge. Im Kanton Basel-Stadt verfünffachten sich die Gesuche in
zwei Jahren auf 272. In anderen Kantonen (GR, SZ, SO) hingegen stagnierten sie
bei etwa einem bis zwei Dutzend. Fast die Hälfte aller Fälle betreffen
Legasthenie und Dyslexie. Für den Kanton Zürich hat die Wissenschafterin noch
keine Zahlen erhalten. Rektoren von Gymnasien schätzen auf Anfrage, dass 1 bis
2 Prozent ihrer Schüler Ausgleichsmassnahmen erhalten. An der KV Zürich
Business School sei kein grosser Anstieg spürbar. Anders an den Hochschulen:
Sowohl die Universität Zürich als auch die ETH gewähren heute markant mehr
Ausgleichsmassnahmen für ihre Studierenden als noch vor wenigen Jahren.
Grund für den Trend ist die Absicht, möglichst vielen jungen Erwachsenen
den Abschluss einer Lehre oder einer Matur zu ermöglichen. Nachdem zuerst an
den Primar- und Sekundarschulen die Integration von Schülern mit
Beeinträchtigungen gefördert wurde, sei das Thema nun auch in den Mittel- und
Berufsschulen in den Fokus gerückt, sagt Theo Ninck, Vorsteher des Berner
Mittelschul- und Berufsbildungsamtes. Dabei gehe es nicht um Erleichterungen
bei den Prüfungen. «Lernziele dürfen nicht reduziert werden. Aber es dürfen
Hilfsmittel zur Erreichung gewährt werden», sagt Ninck. Im Kanton Bern wurde
dies letztes Jahr rund 1,6 Prozent der Maturanden und 2,5 Prozent der Lehrlinge
bei ihren Abschlussprüfungen zugestanden. Diese Entwicklung hat aber auch ihre
Kehrseite, sagt Jürg Raschle, Generalsekretär des Bildungsdepartementes des
Kantons St. Gallen. Leider werde das Thema bisweilen auch benutzt, um über die
Prüfungsbewertungen zu feilschen. Aus seiner Sicht ist die Grauzone zwischen
wissenschaftlich fundierten und angeblichen Nachteilen gross. Auch der St.
Galler Berufsfachschulberater Serge Ludescher sagt: «Man muss aufpassen, dass
ein Nachteilsausgleich nicht zum Vorteil gegenüber anderen Lernenden wird.»
Bildungsnähe als Vorteil
Umso wichtiger sei es, sagen verschiedene Fachleute, dass man sich bei
den Entscheiden auf professionelle Gutachten abstütze. Zudem gebe es auch Grenzen:
So dürfe es bei berufsrelevanten Nachteilen keinen Ausgleich geben. Zum
Beispiel muss, wer Kaufmann lernen will, auch gut rechnen können. Eine schwere
Dyskalkulie muss in diesem Beruf nicht kompensiert werden, entschied kürzlich
die Verwaltungs-Rekurskommission des Kantons St. Gallen. Grundsätzlich aber sei
der Nachteilsausgleich eine gute Sache, sagt Ludescher. «Wir informieren heute
aktiver über diese Möglichkeit.» St. Gallen gilt diesbezüglich als
Vorreiter-Kanton.
Solche Initiativen begrüsst auch die Wissenschafterin Pia Georgi von der
Hochschule für Heilpädagogik. Es sei wichtig, dass die Schulen auf den
Nachteilsausgleich aufmerksam machten. «Das erhöht die Chancengleichheit», sagt
sie. Denn es stellt sich die Frage, ob heute nicht vor allem gut gebildete
Eltern solche Ausgleiche für ihre Kinder einfordern, weil sie um diese
Möglichkeit wissen. Ein Eindruck, den auch Mittelschulrektoren teilen. Dem
wollen Georgi und ihre Kollegin Claudia Schellenberg in ihrer Studie auch noch
nachgehen. «Es ist denkbar, dass es hier gewisse Einflüsse gibt», sagt die
Wissenschafterin.
Zudem soll der langfristige
Effekt der Massnahme untersucht werden. Dem eingangs erwähnten Jugendlichen hat
der juristische Kampf seines Vaters indes nichts genützt: Er ist zur erneuten
Aufnahmeprüfung gar nicht mehr angetreten.
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