Der Widerstand gegen den
Fremdsprachenunterricht in der Primarschule wächst. Und dort, wo
Frühfranzösisch unbestritten ist, regen sich Lehrer und Eltern über die
Schulbücher auf.
Kaum jemand wird je
wissen müssen, dass der «Schiffshalterfisch» auf Französisch «rémora» heisst.
Und wer «Iltis» nicht als «putois» übersetzen kann, wird auch gut durchs Leben
kommen. Das sind zwei Worte, die Drittklässler lernen, die mit dem Französischlehrmittel
«Mille feuilles» arbeiten. Dafür können sie keine Verben konjugieren.
Französischunterricht an einer Zürcher Primarschule, Bild: Gaetan Bally
Der Sprachenstreit beginnt schon beim Lehrmittel, Tages Anzeiger, 7.7. von Felix Schindler
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«Mille
feuilles» ist ein Lehrmittel des interkantonalen Spracherwerbskonzepts
«Passepartout». Zum Einsatz kommt es in den Kantonen Basel-Stadt, Baselland,
Bern, Freiburg, Solothurn und Wallis. Diese sechs Kantone bilden eine Achse
durch die Schweiz, westlich davon wird Französisch gesprochen, östlich davon
wächst der Widerstand gegen die Drohung von Innenminister Alain Berset (SP),
alle Kantone zum Frühfranzösisch zu verpflichten. Im Kanton Thurgau soll das
Frühfranzösisch auf das Schuljahr 2017/18 abgeschafft werden, in acht weiteren
Kantonen bröckelt die Unterstützung für den Fremdsprachenunterricht.
«Schö» ist so gut wie
«je»
In
den sechs Passepartout-Kantonen ist die Stimmungslage anders: Das
Frühfranzösisch ist unbestritten. Es herrscht ein Konsens darüber, dass Kinder
möglichst früh Französisch lernen sollen. Heute tun sie es ab der 3. Klasse –
ab der 5. kommt Englisch dazu. So, wie es der Sprachenkompromiss der EDK
vorsieht. Bersets Warnschuss vom Mittwoch geht dort deshalb ins Leere. Trotzdem
wird in den Passepartout-Kantonen genauso heftig über Bildung gestritten.
Grund
für den Streit ist «Mille feuilles». Das Lehrmittel stellt laut einer
Selbstdeklaration «Handeln und Kommunizieren» in den Vordergrund, nicht
Grammatik und Vokabelnpauken. Den Kindern werden Sachtexte vorgesetzt, die sie
vielleicht nie restlos verstehen werden, aber interessant finden. Sinnbildlich
dafür ist der «Percnoptère» geworden – Französisch für «Schmutzgeier» – ein
Wort, das auch auf Deutsch kaum jemand kennt. Fehler machen ist Teil des
Konzepts. So übersetzen die Kinder «ich» anfangs mit «schö» – und kein Lehrer
interveniert.
Am
heftigsten ist die Opposition im Baselbiet. Das reformkritische Komitee «Starke
Schule» lancierte eine Initiative zum Ausstieg aus dem Passepartout-Konkordat.
Eine zweite Initiative fordert, dass in der Primarschule nur eine Fremdsprache
unterrichtet werde – Französisch, womit sie ebenfalls einen Grundsatz des
Passepartout-Konzepts infrage stellt. Vorstandsmitglied Jürg Wiedemann sagt:
«Manche Kinder können nach drei Jahren Französisch praktisch keinen
französischen Satz sagen.» Das sei für viele frustrierend. Die Kritik wurde so
laut, dass der Verlag bereits Korrekturen angekündigt hat. Doch Wiedemann sagt,
er werde sich nur damit arrangieren, wenn «‹Mille feuilles› wirklich
grundlegend geändert wird».
Die
Fremdsprachendidaktikerin Barbara Grossenbacher, Professorin an der Fachhochschule
Nordwestschweiz, hat das Lehrmittel mitkonzipiert. «Mille feuilles» verfolge
eine Didaktik, die vielen Eltern fremd sei. «Sie sehen deshalb nicht, dass ihre
Kinder sehr wohl etwas lernen. Sie entwickeln zum Beispiel Strategien, um
komplexere Texte zu verstehen, ohne jedes Wort zu kennen. Sie entwickeln so den
Mut, spontan auf eine Fremdsprache zuzugehen.» Dass die Neuerungen im
Sprachunterricht Lehrer und Eltern verunsichert, verstehe sie. Man sollte jetzt
aber auf wissenschaftliche Ergebnisse warten, die die Wirksamkeit dieser
Didaktik nachweisen, sagt Grossenbacher. Dann werde auch eine weniger emotional
geführte Diskussion möglich sein.
Der
Leiter Pädagogik des Schweizer Lehrerverbands, Jürg Brühlmann, sagt, die Kritik
an «Mille feuilles» sei im Grundsatz bereits 40 Jahre alt. Praktisch jedes
Lehrmittel mit dem Fokus auf Kommunikation sei bei seiner Einführung stark
kritisiert worden. Und zwar namentlich dort, wo Noten etwa für den Übertritt
ins Gymnasium wichtig seien. «Dort wächst automatisch die Forderung nach
Grammatikkompetenzen, denn diese lassen sich besser prüfen.»
Vier Landesteile, vier
Sprachen
Bei
einer strikt auf Grammatik ausgerichteten Didaktik kommt dem Präsidenten des
Lehrerverbands, Beat W. Zemp, ein Aspekt zu kurz: «Ein wichtiges Ziel der
heutigen Sprachdidaktik ist, dass Kinder verstehen, dass es vier Landesteile
und vier Sprachen gibt und dass sie alle zur Schweiz gehören.» Dass ein Konsens
in diesen Fragen immer schwieriger werde, ist laut Zemp kein Zufall: «Die SVP
hat die Bildung vor einigen Jahren zu einem ihrer Oppositionsgebiete erklärt.
Zwei Fremdsprachen in der Primarschule, Lehrplan 21 oder neue Lehrmittel:
Egal, worauf sich die Kantone einigen, die SVP ist dagegen.»
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