Rund vier Prozent der Kinder in der Schweiz
besuchen während der obligatorischen Schulzeit eine private Einrichtung. Warum
verlassen Kinder die Volksschule? Warum entscheiden sich Eltern für die teure
Alternative? Drei Familien berichten.
Das Problem ist das System, Bild: Samuel Trümpi |
Wenn Schule zur Privatsache wird, Migros Magazin, 13.6. von Erika Burri
Privat oder öffentlich? Für Jero (16), Kim (14) und Laïn (11) hat sich diese Frage
nie gestellt: Sie kennen nichts anderes als die Welt der Zeit-Kind-Privatschule. Ihre
Eltern,Armin und Martina Fähnrich, haben
die Einrichtung 2003 gegründet. Armin Fähnrich (46) bezeichnet sich als
leidenschaftlichen Pädagogen, der zunehmend Mühe damit hatte, dass die
Volksschule sich Ende der 90er-Jahre zu verändern begann: Die Lehrerausbildung
wurde akademisiert, die Schulen erhielten Schulleiter, und die Klassen, die nun
zunehmend integrativ geführt wurden, bekamen Besuch von Spezial- und
Förderlehrern.
Was für Armin Fähnrich bei all den Umstrukturierungen zu kurz kam, war
die Beziehung zum Kind. Wenn Primarschüler von mehreren Lehrern unterrichtet
würden, sagt er, sei es mit dem Aufbau von Beziehungen zwangsläufig schwierig.
Und: «Lehrer, die ein Kind nicht kennen, können kaum einen Erfolg bewirken.»
Lernen basiere auf Vertrauen – und Vertrauen entstehe nur, wenn die Lehrperson
eine Beziehung zum Kind aufbaue. Für ihn war deshalb bald klar: Das System ist
das Problem.
Für Armin und Martina Fähnrich (41) war es aber nie Bedingung, dass auch
ihre eigenen Kinder ihre Privatschule besuchen sollten. Denen gefiel es jedoch,
und es erleichterte das Familienleben.
Viele der Schulkollegen, die von der öffentlichen Schule an die Zeit-Kind-Schule gewechselt haben, erzählen ihnen, was sie zuvor erleben mussten. Es sind Geschichten, die die Volksschule nicht gerade ins beste Licht rücken: Geschichten von Mobbing, überforderten Lehrern, grossen Klassen und Lehrpersonen, die schlechte Noten verteilen, weil sie ein Kind nicht mögen. Zwar gebe es manchmal auch Probleme an der Zeit-Kind-Schule, sagen sie, aber keine, die man nicht lösen könnte. Im Prinzip sei man eine grosse Familie.
Die
Volksschule als Irrweg
Mehrere Wege führen ans Ziel – der altbekannte Spruch treffe halt schon
zu, sinniertSven Jutzi. Der
40-jährige Militärpolizist sitzt auf einem Kinderstuhl der Montessori-Schule in
Bern, etwas tief und nicht sonderlich bequem. Eigentlich, räumt er ein, handle
es sich ja eher um Wünsche für seine beiden Töchter Cinja (8) und Sarina (4) als um ein klares
Ziel: «Sie sollen in ihrem Leben Freude am Lernen haben.» Seine Frau Nicole Jutzi (41) ergänzt: «Ich
möchte, dass sie im Leben keine Angst haben, zu versagen.» In den Aussagen der
Eltern schwingen die Erinnerungen mit, die sie mit der eigenen Schulzeit
verbinden: Sven Jutzi litt an Prüfungsangst, die er auch später nie ganz
überwinden konnte.
Auch Maristella Weiss ist
Mutter zweier Privatschulkinder. Sie sieht ihre Aufgabe aber nicht darin, ihren
Kindern alle Steine aus dem Weg zu räumen. Ihre Zwillingsbuben müssten sich
schon auch anstrengen und merken, dass sie die Gestaltung der Zukunft in der
eigenen Hand haben.
Samuel und Mattia (14) waren keine guten Primarschüler. Hausaufgaben waren für Kinder wie Eltern nicht selten frustrierend. Die Zwillinge waren einen Monat zu früh auf die Welt gekommen; bei der Einschulung gehörten sie zu den Kleinsten. Diesen Rückstand haben sie nie ganz aufgeholt. Er wolle die öffentliche Schule überhaupt nicht kritisieren, sagt Vater Michael Weiss (43), die gäben sich wirklich Mühe. Aber bei zwischenzeitlich bis zu 27 Kindern in einer Klasse sei eine intensive individuelle Förderung nun mal mehr Wunsch als Realität.
Samuels und Mattias Noten reichten nur knapp für den Übertritt an die
Sekundarschule. Die Aussichten, ohne Fördermassnahmen einigermassen gut
abzuschliessen, waren eher klein. Den Eltern wäre es am liebsten gewesen, ihre
Buben hätten die 6. Klasse wiederholen können. Ein schlechter
Sekundarschulabschluss, fanden sie, ist ein schlechter Start ins
Erwachsenenleben.
Dass ihre Kinder keine Hochbegabten sind, weiss Maristella Weiss. Aber
sie und ihr Mann waren überzeugt, dass etwas mehr drinläge. Mattia absolviert
nun an der Ortega-Schule in St. Gallen die
Sekundarschulvorbereitung, Samuel die erste Sekundarstufe. Die Klassen sind
kleiner, und die Lehrer haben mehr Zeit.
Eine
Alternative, die ihren Preis hat
Es lässt sich kaum wegdiskutieren: Viele Kinder aus dem Schweizer
Mittelstand, die in der Schweiz eine Privatschule besuchen, haben diese
Alternative gewählt, weil es an der öffentlichen Schule Probleme gab – mit
Mitschülern, mit Lehrpersonen. Oder weil das Umfeld einfach nicht stimmte.
Daneben gibt es die Privilegierten und die Expats. Für sie hat die Schule oft auch den Charakter einer Dienstleistung, die man einkauft. Die meisten Privatschulen befinden sich folglich dort, wo Reiche und Expats wohnen: in einigen Gemeinden am Zürichsee, im Kanton Zug, am Genfersee und in Basel-Stadt. Rund vier Prozent der Kinder in der Schweiz besuchen nicht die Volksschule; diese Quote ist seit Jahren stabil.
24'000 Franken Schulgeld pro Jahr zahlen die Jutzis für die beiden
Mädchen. Was Nicole Jutzi als Spitex-Schwester verdient, fliesst mehr oder
weniger direkt aufs Konto der Montessori-Schule. Die Familie verzichtet auf
teure Ferien, Restaurantbesuche sind eine Seltenheit. Privatschule war für die
Jutzis lange Zeit gar kein Thema – bis die Älteste sich im zweiten
Kindergartenjahr zu langweilen begann und nicht mehr gern hinging. Also
schauten sich die Jutzis nach Alternativen um – und fanden die
Montessori-Schule. Sie schätzen die Art, wie die Schule mit Fehlern umgeht. «Es
heisst nicht einfach: Etwas ist falsch», sagt Nicole Jutzi. Die
Montessori-Lehrer gäben den Kindern die Chance, Fehler selber zu entdecken und
zu beheben. Es ist Nicole und Sven Jutzi etwas wert, ihren Mädchen vieles vom
dem zu ersparen, was sie selber erlebt haben.
Zahlungswille
ist noch kein Eintrittsticket
Die Zwillinge Samuel und Mattia wissen sehr wohl, wie viel die
Ortega-Schule in St. Gallen kostet: 100 Franken pro Kind und Schultag. Viel
Geld. Die Schulgemeinde ihres Wohnorts übernimmt davon etwas mehr als die
Hälfte. Mattia will vielleicht mal Kindergärtner werden, Samuel «irgendwas mit
Technik» machen. Zur Schule, darin sind sich die beiden einig, gehen sie jetzt
viel lieber.
Die elterliche Bereitschaft zu zahlen garantiert indes noch nicht, dass
die Privatschulen die Kinder auch aufnehmen. Sie laden zu Besuchstagen ein und
führen intensive Gespräche mit den Eltern. «Wir nehmen im Prinzip nicht die
Schüler auf, sondern die Eltern», sagen Armin und Martina Fähnrich, die Gründer
der Zeit-Kind-Schule. Sie wollen von den Eltern wissen: Was sind ihre Motive?
Geht es darum, die Privatschule für ihre eigenen Ziele einzuspannen? Oder geht
es ihnen wirklich um das Wohl des Kindes?
«Wenn Eltern zu uns kommen und sagen, sie wollten, dass ihr Kind die Matura schaffe», sagt Armin Fähnrich, «dann sagen wir ab.» Auch die anderen beiden Schulen bestätigen, dass sie Kinder ablehnen, wenn sie merken, dass die Eltern sich gar nicht mit der Philosophie der Schule auseinandergesetzt haben.
Die Fähnrichs haben es oft erlebt: Kinder scheitern in der Schule, weil
die Erwartungen der Eltern zu hoch sind. «Die Eltern übertragen ihre Ängste oft
auf ihre Kinder», sagt Martina Fähnrich, ausgebildete Schauspielerin und
Theaterpädagogin. Die Angst etwa, sozial abzusteigen und im Leben nicht zu
bestehen. Diese Ängste führten dazu, dass man nicht sehe, was das Kind
eigentlich sei: ein Individuum, das in dieser Welt seinen eigenen Weg zu gehen
hat.
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