Selbstorganisiertes
Lernen soll Eigenverantwortung fördern. Viele Schüler und Lehrer fühlen sich
damit aber überfordert.
Der 16-Jährige
besucht die Oberstufe Seehalde in Niederhasli ZH. Eine Schule, die auf radikale
Methoden setzt. Der klassische Frontalunterricht und Jahrgangsklassen sind
abgeschafft. Die Klasse heisst neu «Homebase», die Lehrer geben als «Coach» nur
noch ab und zu kurze Inputlektionen von rund 30 Minuten, den Rest des Stoffes
sollen sich die Schüler in altersdurchmischten Grossgruppen mit dem iPad selber
beibringen. Lineare Funktionen zum Beispiel oder das Passé composé im
Französischen. Wer eine Frage hat, muss beim Lehrer einen Termin abmachen.
«Selbstorganisiertes Lernen» heisst das im Jargon der Reformpädagogik. Kürzel:
SOL.
«Das
Konzept funktioniert einfach nicht», sagt Kevin. «In den SOL-Stunden ist oft
keine Lehrperson da, und wenn man eine Frage hat, kann es zwei bis drei Tage
dauern, bis man einen Termin bekommt.» Daher kämpfe er sich lieber mit seinem
Vater durch den Stoff. «Aber er ärgert sich natürlich, dass die Schule das
Unterrichten an die Eltern auslagert.»
Dabei
ist die didaktische Grossoffensive gut gemeint. Selbstorganisiertes Lernen, so
die Idee der Reformer, soll Schüler motivieren und ihnen Eigenverantwortung
beibringen. Doch das Lernkonzept ist umstritten. Eltern und Lehrer fürchten
eine Überforderung der Schüler und klagen über grosse Wissenslücken. Als das
neue System eingeführt wurde, hat die Oberstufenlehrerin Mary Maissen nach 15
Jahren in Niederhasli gekündigt, gleichzeitig mit neun anderen Lehrern. «Mir
tun die Schüler leid, sie werden als Versuchskaninchen benutzt», sagt sie. «In
diesem Alter tun sich die meisten Jugendlichen schwer mit selbstorganisiertem
Lernen. Da kommen sogar Gymnasiasten an ihre Grenzen.» Auch Lehrer Jean-Daniel
Amuat hat in Niederhasli das Handtuch geworfen und an eine andere Schule
gewechselt. «Die Aufgabe des Lehrers besteht darin, dafür zu sorgen, dass die
Schüler etwas lernen. Man kann sie nicht einem iPad überlassen», kritisiert
Amuat. «Mit dem selbstorganisierten Lernen delegiert man alles an die Schüler
und drückt sich vor der Verantwortung.»
Tatsächlich
fehlt bis heute der Nachweis, dass die Schüler mit alternativen
Unterrichtsmethoden selbstständiger und besser werden. Der neuseeländische
Bildungsforscher John Hattie kommt nach der Auswertung von Hunderten Studien
sogar zum Schluss: Entscheidend für das Fortkommen der Schüler sind die
Fähigkeiten des Lehrers, während offene Lernkonzepte und altersdurchmischte
Klassen keine messbaren Effekte auf den Lernerfolg hätten.
Dennoch
wird diese Methode unverdrossen als Konzept der Zukunȑ gefeiert. Niederhasli
ist längst nicht die einzige Schule, die darauf setzt. Radikal wurde in den
zürcherischen Gemeinden Neȑenbach und Wädenswil auf das selbstorganisierte
Lernen umgestellt. Basel zieht jetzt nach: An der Sekundarschule Sandgruben ist
der Frontalunterricht abgeschafft, die Jugendlichen bekommen von den Lehrern
einmal wöchentlich einen Input, den Rest der Woche arbeiten sie selbstständig.
In den Luzerner Gemeinden Egolzwil, Entlebuch und Hohenrain sollen künftig
sogar Primarschüler «selbstgesteuert» lernen, wie es auf der Homepage heisst.
Und das dürfte erst der Anfang sein.
Schulen
wie Niederhasli sollen zur Pionierin werden. Denn der neue Lehrplan 21, der für
die Schulen der Deutschschweizer Kantone gelten soll, gibt der
Alternativbeschulung weiteren Schub. Die Erziehungsdirektoren haben in einem
Grundlagenpapier zum Lehrplan 21 angekündigt, dass das Lernen «verstärkt als
selbstgesteuerter Prozess» verstanden werden soll.
Das
neue Regelwerk listet nicht mehr auf, welche Inhalte die Lehrer unterrichten
sollen, sondern welche «Kompetenzen» die Schüler beherrschen müssen. Für
Gregory Turkawka, Gesamtschulleiter in Niederhasli, ist es daher «notwendig»,
dass das selbstorganisierte Lernen mit dem Lehrplan 21 «ausgebaut» wird:
«Individuelle Kompetenzen kann man nur selber erarbeiten und nicht im
Frontalunterricht beobachten.»
In Sport und Zeichnen lernt man nicht
selbstorganisiert
Seit
der Einführung von Turkawkas Schulreform gab es immer wieder Kritik, Eltern
haben protestiert, weil ihre Kinder mit dem Schulstoff im Rückstand seien. Sie
reichten beim Volksschulamt eine Beschwerde ein, die aber Ende April abgewiesen
wurde. Bis zu zehn Lektionen pro Woche müssen die Schüler in Niederhasli das
Lernen selber organisieren. «Das entspricht weniger als 30 Prozent der gesamten
Lektionenzahl», sagt Turkawka. Es handle sich um eine «Lightversion».
Diese
Rechnung sei «irreführend», kontert Suzanne Weigelt, ehemalige Lehrerin in
Niederhasli. «In Fächern wie Sport, Haushalt und Zeichnen wird diese Methode
nicht angewendet, damit steigt der Anteil des selbstorganisierten Lernens in
den Kernfächern Mathe, Deutsch, Französisch und Englisch auf rund 50 Prozent.»
Das sei klar zu viel. Hier werde offenbar «ein Pilotversuch für die Umsetzung
des Lehrplans 21 durchgeführt, ohne dass man das offen deklariert», sagt
Weigelt. «Die Kosten tragen die Schüler.»
Auf
sogenannten Kann-Listen müssen die Schüler den Stoff abhaken, den sie gelernt
haben und nach eigener Einschätzung beherrschen, es gibt ein Formular zum
«Punktekonto für den Lernprozess» und ein Formular für die «Notenplanung».
Diese sogenannte formative Lernbegleitung bringt Punkte und ist Teil der Note.
Allein mit Administration können es die Schüler auf 30 Punkte bringen. Für 80
Punkte gibt es in der Sek B die Note 6.
Die
Folgen der SOL-Euphorie kennt Ʈhomas Baer. Der Nachhilfelehrer aus Niederglatt
ZH hat «in zunehmender Zahl Schüler, die nach dieser Methode lernen», sagt
Baer. «Wir nennen sie SOL-Opfer. Diese Schüler seien «mit dem Stoff zum Teil
massiv im Rückstand». Er stelle «mit Erschrecken» fest, dass sie zwar vom
Pythagoras oder Passé composé gehört hätten, das aber nicht anwenden könnten.
«Manchmal muss ich wieder bei null anfangen.»
In
diesem Sommer sollte auch im Schulhaus Eichi in Niederglatt die Lernmethode an
jene von Niederhasli angepasst werden. Es hagelte Proteste von besorgten
Eltern. Jetzt wurde das Vorhaben auf unbestimmte Zeit gestoppt.
* Name von der
Redaktion geändert
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