Beat
Brüllmann, Chef des Amtes für Volksschule, verteidigt den Lehrplan 21 als guten
Kompromiss, der im Thurgau mit gesundem Menschenverstand umgesetzt werde. Für
Kritiker Alain Pichard wird aus dem Lehrer ein Vollzugsbeamter.
Grosses Interesse in Weinfelden am Lehrplan 21, Bild: Andrea Stalder
Angst vor einer "Testitis" geht um, Thurgauer Zeitung, 10.6. von Christian Kamm
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Die Thurgauer Lehrplan-Gegner riefen, und das Publikum kam in Scharen. Und
füllte den Weinfelder Rathaussaal bis auf den letzten Platz. Zu sehen gab es
eine kontradiktorische, von TZ-Redaktor Mario Testa moderierte
Podiumsveranstaltung. Hüben Beat Brüllmann, seit 1. März Chef des Amtes für
Volksschule und Lehrplan-Befürworter. Drüben der Bieler Reallehrer,
GLP-Stadtrat und erklärter Kritiker des Lehrplans 21, Alain Pichard.
Freiraum
für Lehrer erhalten
Obwohl
der neue Amtschef nicht in den Entstehungsprozess des neuen Lehrplans
involviert war, machte Beat Brüllmann deutlich, dass er voll hinter dem
Resultat steht. Angesichts einer sich laufend verändernden Welt sei eine
Aktualisierung nach 20 Jahren angezeigt. Der Lehrplan 21 führe zu keiner
Bildungsrevolution, sondern sei «ein guter und umsetzbarer Kompromiss», der den
Lehrpersonen den nötigen Freiraum lasse. Diese behielten auch ihre zentrale
Rolle im Schulgeschehen: «Nur 80 Prozent der Unterrichtszeit wird vom Lehrplan
abgedeckt», sagte Brüllmann.
Bildungspolitik
im Dilemma
Die
Bildungspolitik befinde sich im Dilemma: Einerseits die kantonale Hoheit
verteidigen und andererseits aber einen reibungslosen Kantonswechsel von
Schülern ermöglichen zu müssen. Diesem Dilemma, so Brüllmann, werde der
Lehrplan 21 ziemlich gut gerecht. Der Amtschef warnte davor, Einheitlichkeit
mit Zentralismus gleichzusetzen. Es gelte, Vielfalt trotz Einheitlichkeit zu
ermöglichen. «Denn Einheitlichkeit versteht sich nicht als Zentralismus.» Auch
warb Brüllmann um Vertrauen in die Lehrpersonen, dass sie in der Lage seien,
«den neuen Lehrplan mit gesundem Menschenverstand einzusetzen».
Verwissenschaftlichung?
Alain
Pichard setzte den Kritikerhebel postwendend bei der von Brüllmann postulierten
Freiheit der Lehrpersonen an. Die im Thurgau geplanten Kompetenzprofile für
Lehrkräfte «machen sehr skeptisch». Darüber hinaus stellte er die Übungsanlage
grundsätzlich in Frage: «Warum soll das Schweizer Bildungssystem so reformbedürftig
sein?» Es funktioniere bestens, und man könne mit der Spitze mithalten. Der
Lehrplan 21 werde die Schule mit seiner Fixierung auf Schülerkompetenzen
nachhaltig verändern. Er bringe eine Verwissenschaftlichung der Schule mit sich
– in Form von Normierung, Bildungsmonitoring, Messung von Kompetenzen – und
Lehrkräfte in der Rolle als Lerncoach.
«Man will
nicht diskutieren»
«Alles
wird auf Anwendbarkeit getrimmt und entfernt sich zunehmend von der Praxis»,
befürchtete der Praktiker Pichard, der davor warnte, wie das übrige Europa und
die USA den falschen Weg einzuschlagen. Er sieht hinter dem Lehrplan eine
Allianz aus Politik, Verwaltung und Wissenschaft, welche ihn von oben herab und
möglichst schnell einführen wolle. «Mit den Leuten diskutieren möchte man
nicht.» Dabei sei für ihn als Lehrer klar, «dass Erziehungswissenschafter nicht
per se die besseren Bildungsreformer sind und PH-Dozenten nicht per se die
besseren Lehrer».
Alles
wird messbar
In der
anschliessenden Fragerunde prallten die Gegensätze direkt aufeinander.
Brüllmann verwies auf die bereits dritte Vernehmlassung, die gegenwärtig im
Thurgau zum neuen Lehrplan laufe. «Die Mitsprache ist, da; das läuft nicht
einfach top-down.» Auch befürwortete er, mit der Orientierung an Kompetenzen
statt Lernzielen den Blick von der Lehrkraft weg zu den Schülern zu richten.
Zwar stellte Brüllmann das Risiko einer «Testitis» nicht in Abrede, «aber wir
haben genug Personen im Thurgau, die das verhindern werden».
Pichard
wiederum sieht einen Unterricht am Horizont aufziehen, bei dem es «nicht mehr
um Inhalte geht, sondern nur noch um Ergebnisse». Es werde alles gemessen und
lediglich auf die Tests hingearbeitet. «Das ist kein guter Unterricht.» Der
neue Lehrplan komme einem «Pisa-Testbuch» gleich. Im sogenannten
selbstgesteuerten Lernen würden viele Schüler untergehen, befürchtet Pichard.
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