10. Juni 2016

Lehrplan-Podium in Weinfelden

Beat Brüllmann, Chef des Amtes für Volksschule, verteidigt den Lehrplan 21 als guten Kompromiss, der im Thurgau mit gesundem Menschenverstand umgesetzt werde. Für Kritiker Alain Pichard wird aus dem Lehrer ein Vollzugsbeamter.
Grosses Interesse in Weinfelden am Lehrplan 21, Bild: Andrea Stalder
Angst vor einer "Testitis" geht um, Thurgauer Zeitung, 10.6. von Christian Kamm
Die Thurgauer Lehrplan-Gegner riefen, und das Publikum kam in Scharen. Und füllte den Weinfelder Rathaussaal bis auf den letzten Platz. Zu sehen gab es eine kontradiktorische, von TZ-Redaktor Mario Testa moderierte Podiumsveranstaltung. Hüben Beat Brüllmann, seit 1. März Chef des Amtes für Volksschule und Lehrplan-Befürworter. Drüben der Bieler Reallehrer, GLP-Stadtrat und erklärter Kritiker des Lehrplans 21, Alain Pichard.

Freiraum für Lehrer erhalten
Obwohl der neue Amtschef nicht in den Entstehungsprozess des neuen Lehrplans involviert war, machte Beat Brüllmann deutlich, dass er voll hinter dem Resultat steht. Angesichts einer sich laufend verändernden Welt sei eine Aktualisierung nach 20 Jahren angezeigt. Der Lehrplan 21 führe zu keiner Bildungsrevolution, sondern sei «ein guter und umsetzbarer Kompromiss», der den Lehrpersonen den nötigen Freiraum lasse. Diese behielten auch ihre zentrale Rolle im Schulgeschehen: «Nur 80 Prozent der Unterrichtszeit wird vom Lehrplan abgedeckt», sagte Brüllmann.

Bildungspolitik im Dilemma
Die Bildungspolitik befinde sich im Dilemma: Einerseits die kantonale Hoheit verteidigen und andererseits aber einen reibungslosen Kantonswechsel von Schülern ermöglichen zu müssen. Diesem Dilemma, so Brüllmann, werde der Lehrplan 21 ziemlich gut gerecht. Der Amtschef warnte davor, Einheitlichkeit mit Zentralismus gleichzusetzen. Es gelte, Vielfalt trotz Einheitlichkeit zu ermöglichen. «Denn Einheitlichkeit versteht sich nicht als Zentralismus.» Auch warb Brüllmann um Vertrauen in die Lehrpersonen, dass sie in der Lage seien, «den neuen Lehrplan mit gesundem Menschenverstand einzusetzen».

Verwissenschaftlichung?
Alain Pichard setzte den Kritikerhebel postwendend bei der von Brüllmann postulierten Freiheit der Lehrpersonen an. Die im Thurgau geplanten Kompetenzprofile für Lehrkräfte «machen sehr skeptisch». Darüber hinaus stellte er die Übungsanlage grundsätzlich in Frage: «Warum soll das Schweizer Bildungssystem so reformbedürftig sein?» Es funktioniere bestens, und man könne mit der Spitze mithalten. Der Lehrplan 21 werde die Schule mit seiner Fixierung auf Schülerkompetenzen nachhaltig verändern. Er bringe eine Verwissenschaftlichung der Schule mit sich – in Form von Normierung, Bildungsmonitoring, Messung von Kompetenzen – und Lehrkräfte in der Rolle als Lerncoach.

«Man will nicht diskutieren»
«Alles wird auf Anwendbarkeit getrimmt und entfernt sich zunehmend von der Praxis», befürchtete der Praktiker Pichard, der davor warnte, wie das übrige Europa und die USA den falschen Weg einzuschlagen. Er sieht hinter dem Lehrplan eine Allianz aus Politik, Verwaltung und Wissenschaft, welche ihn von oben herab und möglichst schnell einführen wolle. «Mit den Leuten diskutieren möchte man nicht.» Dabei sei für ihn als Lehrer klar, «dass Erziehungswissenschafter nicht per se die besseren Bildungsreformer sind und PH-Dozenten nicht per se die besseren Lehrer».

Alles wird messbar
In der anschliessenden Fragerunde prallten die Gegensätze direkt aufeinander. Brüllmann verwies auf die bereits dritte Vernehmlassung, die gegenwärtig im Thurgau zum neuen Lehrplan laufe. «Die Mitsprache ist, da; das läuft nicht einfach top-down.» Auch befürwortete er, mit der Orientierung an Kompetenzen statt Lernzielen den Blick von der Lehrkraft weg zu den Schülern zu richten. Zwar stellte Brüllmann das Risiko einer «Testitis» nicht in Abrede, «aber wir haben genug Personen im Thurgau, die das verhindern werden».

Pichard wiederum sieht einen Unterricht am Horizont aufziehen, bei dem es «nicht mehr um Inhalte geht, sondern nur noch um Ergebnisse». Es werde alles gemessen und lediglich auf die Tests hingearbeitet. «Das ist kein guter Unterricht.» Der neue Lehrplan komme einem «Pisa-Testbuch» gleich. Im sogenannten selbstgesteuerten Lernen würden viele Schüler untergehen, befürchtet Pichard.

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