SVP und FDP möchten im Kanton Aargau die
integrative Schulung am liebsten wieder abschaffen. Die beiden höchsten
Schulleiter im Kanton sagen, was sie von dieser Forderung halten. Nämlich
nichts.
Aargauer Schulsytem in der Kritik: Das sagen die obersten Schulleiter, Aargauer Zeitung, 17.5. von Jörg Meier
Beat Petermann ist Schulleiter an der Kreisschule
Unteres Fricktal in Rheinfelden. Seine Schule wird separativ geführt. Philipp
Grolimund ist Schulleiter an der Schule Muhen. Seine Schule wird integrativ
geführt. Petermann und Grolimund präsidieren gemeinsam den Verband
Schulleiterinnen und Schulleiter Aargau (VSLAG). Führt das nicht zu ständigen
Diskussionen um das richtige Schulmodell zwischen den beiden Co-Präsidenten?
«Überhaupt nicht», sagt Grolimund. «Beide Modelle haben ihre Berechtigung. Es
war ein kluger Entscheid der Regierung, dass jede Schule selber wählen kann, ob
sie integrativ oder separativ arbeiten möchte.» Petermann nickt und ergänzt:
«Und an diesem Prinzip sollte man nichts ändern.»
Beide Modelle funktionieren
In
Rheinfelden habe man gut funktionierende Kleinklassen, unterrichte Tür an Tür
zur Realschule, die Durchlässigkeit sei gegeben, der Wechsel in die Realschule
sei kein Problem. Daher habe sich die Umstellung zur integrativen Schule nicht
aufgedrängt, erklärt Petermann.
In
Muhen sei man sehr zufrieden mit dem integrativen Modell, sagt Grolimund. Man
schätze die Möglichkeit, die Kinder im oder ausserhalb des Unterrichtes
individuell fördern zu können, die direkte Unterstützung durch die
Heilpädagogin direkt vor Ort sei wertvoll. Aber die Belastung der Lehrpersonen
sei oft hoch.
Welches
Modell eine Schule wählt, hange entscheidend davon ab, ob sich die entsprechende
Kultur an der Schule verankern lässt, ob die Lehrpersonen bereit sind, sich auf
das jeweilige Modell einzulassen. Denn egal, ob separativ oder integrativ:
«Wenn die Lehrpersonen nicht überzeugt sind, wird es schwierig», sagt
Petermann. Auch deshalb sei es richtig, dass es beide Modelle gebe und sich die
Lehrpersonen eine Schule suchen können, wo sie sich mit Überzeugung einsetzen
können.
«Ein grosser Schritt zurück
Nun
möchten aber FDP und SVP die integrative Schulung im Aargau am liebsten wieder
rückgängig machen, weil sie sich nicht bewährt habe. «Das wäre ein grosser
Schritt zurück, eine Rückkehr wäre unnötig und falsch», wehrt sich Petermann.
Grolimund ergänzt, so, wie er die integrative Schule erlebe, bewähre sie sich
sehr wohl. Natürlich gebe es Verbesserungsmöglichkeiten, man wünschte sich
etwa, dass Lehrpersonen bei Bedarf besser unterstützt werden könnten.
Die
Rückkehr zum rein separativen Modell wäre wohl kaum günstiger, vermuten die
beiden Schulleiter – und sie hätte eine unangenehme Nebenwirkung: Werden die
integrativen Klassen aufgehoben, entstehen vielenorts zu kleine Realschulen,
sodass darum zahlreiche Schulstandorte gefährdet wären.
Was
sagen die Co-Präsidenten zum Vorwurf von SVP und FDP, die austretenden
Realschüler könnten weniger als früher, seien gar nicht bereit für den Eintritt
in die Berufslehre? Diesen Vorwurf lässt Petermann gar nicht gelten. «Das
stimmt so nicht. Die heutigen Schülerinnen und Schüler können nicht weniger als
früher.» Aber die Anforderungen in der Berufswelt seien enorm gestiegen. Das
sei nicht primär das Problem der Schule, sondern der Wirtschaft, die von
Realschülern immer mehr verlange. «Die verschiedenen Tests und Checks, die
regelmässig durchgeführt werden, zeigen, dass die heutigen Schüler nicht
weniger wissen oder können, als das früher der Fall war. Aber die Ansprüche
sind gestiegen. Auch Ausbildungen in handwerklichen Berufen sind viel
anspruchsvoller geworden. Sogenannt einfache Berufe gibt es in der Schweiz fast
nicht mehr.»
Positiv
vermerkt Grolimund, dass der Regierungsrat alle Schulleiterinnen und
Schulleiter nun doch noch eingeladen hat, ihm mitzuteilen, was sie denn bisher
für Erfahrungen mit der integrativen Schulung gemacht haben.
Gesucht: Heilpädagogen
Über
93 Prozent der Primarschulen im Aargau haben inzwischen die integrative
Schulung eingeführt. Finden sich da auch genügend Lehrpersonen? Und wie sieht
es bei der konventionellen, separativen Schule aus? Petermann und Grolimund
sind zufrieden. Beide konnten bereits alle Pensen für das Schuljahr 2016/17 an
ihren Schulen besetzen. An ihren Schulen unterrichten Lehrpersonen, die über
die notwendigen Qualifikationen verfügen. Eine Entspannung stellen die beiden
Co-Präsidenten auf der Kindergartenstufe fest. Dadurch, dass Kindergärtnerinnen
bei gleicher Ausbildung in Zukunft auch den gleichen Lohn wie
Primarlehrpersonen erhalten, sei auch die Bereitschaft, am Kindergarten zu
unterrichten, wieder gestiegen.
Schulische
Heilpädagogen zu finden, sei indes ein fast aussichtsloses Unterfangen. Das
dürfe aber nicht weiter erstaunen, sagt Grolimund. Denn Heilpädagogen
absolvierten in der Regel zuerst die Lehrerausbildung und danach nochmals ein
Zusatzstudium von drei Jahren. Trotz dieser Zusatzqualifikation verdienen diese
Heilpädagogen nicht mehr als die andern Lehrpersonen auf der Oberstufe. Dass
diese Lohnsituation nicht besonders dazu motiviere, Heilpädagogin zu werden,
leuchte wohl ein, erklärt Petermann.
Klar
deshalb auch die Forderung der beiden Schulleiter: Das Lohnsystem für
Lehrpersonen im Kanton Aargau muss dringend angepasst werden. Es stimmt nicht
mehr. Zusatzqualifikationen werden nicht adäquat entschädigt. Sorgen bereitet
Petermann der Umstand, dass nach 5 Jahren bereits gegen 50 Prozent der
Berufseinsteiger nicht mehr im Lehrerberuf tätig sind. Oder in einen
Nachbarkanton gewechselt haben, wo sie deutlich mehr verdienen können. Da müsse
der Kanton etwas ändern. Der Lehrerberuf sei im Aargau finanziell einfach nicht
mehr genug attraktiv. «Zudem ist es wenig sinnvoll und vor allem teuer, wenn
der Kanton Lehrpersonen ausbildet, die dann nur kurze Zeit oder nicht im Aargau
unterrichten.»
Vorstoss löst Unmut aus
Noch
etwa beschäftigt Petermann und Grolimund: Die Motion der bürgerlichen Parteien,
die verlangt, dass die Weiterbildung der Lehrpersonen ausnahmslos ausserhalb
der Unterrichtszeit stattfinden müsse, liegt ihnen auf dem Magen. «Dieser
Vorstoss richtet unglaublich viel Flurschaden an», sagt Petermann. Die neue
Einschränkung komme im falschen Moment, löse grossen Unmut aus. Man werde sich
dagegen wehren. Die schulhausinternen Weiterbildungen seien meistens sehr gut
organisiert, der Unterrichtsausfall sei auf ein Minimum reduziert. Die Regelung
hätte zur Folge, dass weniger Weiterbildungen stattfinden werden. Damit liesse
sich zwar etwas Geld sparen; andrerseits müssten doch Kanton und Gemeinden
grosses Interesse an Lehrpersonen haben, die sich stetig und motiviert
weiterbilden.
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