17. Mai 2016

Schulleiter gegen Abschaffung der integrativen Förderung

SVP und FDP möchten im Kanton Aargau die integrative Schulung am liebsten wieder abschaffen. Die beiden höchsten Schulleiter im Kanton sagen, was sie von dieser Forderung halten. Nämlich nichts.
Aargauer Schulsytem in der Kritik: Das sagen die obersten Schulleiter, Aargauer Zeitung, 17.5. von Jörg Meier


Formularende
Beat Petermann ist Schulleiter an der Kreisschule Unteres Fricktal in Rheinfelden. Seine Schule wird separativ geführt. Philipp Grolimund ist Schulleiter an der Schule Muhen. Seine Schule wird integrativ geführt. Petermann und Grolimund präsidieren gemeinsam den Verband Schulleiterinnen und Schulleiter Aargau (VSLAG). Führt das nicht zu ständigen Diskussionen um das richtige Schulmodell zwischen den beiden Co-Präsidenten? «Überhaupt nicht», sagt Grolimund. «Beide Modelle haben ihre Berechtigung. Es war ein kluger Entscheid der Regierung, dass jede Schule selber wählen kann, ob sie integrativ oder separativ arbeiten möchte.» Petermann nickt und ergänzt: «Und an diesem Prinzip sollte man nichts ändern.»
Beide Modelle funktionieren
In Rheinfelden habe man gut funktionierende Kleinklassen, unterrichte Tür an Tür zur Realschule, die Durchlässigkeit sei gegeben, der Wechsel in die Realschule sei kein Problem. Daher habe sich die Umstellung zur integrativen Schule nicht aufgedrängt, erklärt Petermann.
In Muhen sei man sehr zufrieden mit dem integrativen Modell, sagt Grolimund. Man schätze die Möglichkeit, die Kinder im oder ausserhalb des Unterrichtes individuell fördern zu können, die direkte Unterstützung durch die Heilpädagogin direkt vor Ort sei wertvoll. Aber die Belastung der Lehrpersonen sei oft hoch.
Welches Modell eine Schule wählt, hange entscheidend davon ab, ob sich die entsprechende Kultur an der Schule verankern lässt, ob die Lehrpersonen bereit sind, sich auf das jeweilige Modell einzulassen. Denn egal, ob separativ oder integrativ: «Wenn die Lehrpersonen nicht überzeugt sind, wird es schwierig», sagt Petermann. Auch deshalb sei es richtig, dass es beide Modelle gebe und sich die Lehrpersonen eine Schule suchen können, wo sie sich mit Überzeugung einsetzen können.

«Ein grosser Schritt zurück
Nun möchten aber FDP und SVP die integrative Schulung im Aargau am liebsten wieder rückgängig machen, weil sie sich nicht bewährt habe. «Das wäre ein grosser Schritt zurück, eine Rückkehr wäre unnötig und falsch», wehrt sich Petermann. Grolimund ergänzt, so, wie er die integrative Schule erlebe, bewähre sie sich sehr wohl. Natürlich gebe es Verbesserungsmöglichkeiten, man wünschte sich etwa, dass Lehrpersonen bei Bedarf besser unterstützt werden könnten.
Die Rückkehr zum rein separativen Modell wäre wohl kaum günstiger, vermuten die beiden Schulleiter – und sie hätte eine unangenehme Nebenwirkung: Werden die integrativen Klassen aufgehoben, entstehen vielenorts zu kleine Realschulen, sodass darum zahlreiche Schulstandorte gefährdet wären.
Was sagen die Co-Präsidenten zum Vorwurf von SVP und FDP, die austretenden Realschüler könnten weniger als früher, seien gar nicht bereit für den Eintritt in die Berufslehre? Diesen Vorwurf lässt Petermann gar nicht gelten. «Das stimmt so nicht. Die heutigen Schülerinnen und Schüler können nicht weniger als früher.» Aber die Anforderungen in der Berufswelt seien enorm gestiegen. Das sei nicht primär das Problem der Schule, sondern der Wirtschaft, die von Realschülern immer mehr verlange. «Die verschiedenen Tests und Checks, die regelmässig durchgeführt werden, zeigen, dass die heutigen Schüler nicht weniger wissen oder können, als das früher der Fall war. Aber die Ansprüche sind gestiegen. Auch Ausbildungen in handwerklichen Berufen sind viel anspruchsvoller geworden. Sogenannt einfache Berufe gibt es in der Schweiz fast nicht mehr.»
Positiv vermerkt Grolimund, dass der Regierungsrat alle Schulleiterinnen und Schulleiter nun doch noch eingeladen hat, ihm mitzuteilen, was sie denn bisher für Erfahrungen mit der integrativen Schulung gemacht haben.
Gesucht: Heilpädagogen
Über 93 Prozent der Primarschulen im Aargau haben inzwischen die integrative Schulung eingeführt. Finden sich da auch genügend Lehrpersonen? Und wie sieht es bei der konventionellen, separativen Schule aus? Petermann und Grolimund sind zufrieden. Beide konnten bereits alle Pensen für das Schuljahr 2016/17 an ihren Schulen besetzen. An ihren Schulen unterrichten Lehrpersonen, die über die notwendigen Qualifikationen verfügen. Eine Entspannung stellen die beiden Co-Präsidenten auf der Kindergartenstufe fest. Dadurch, dass Kindergärtnerinnen bei gleicher Ausbildung in Zukunft auch den gleichen Lohn wie Primarlehrpersonen erhalten, sei auch die Bereitschaft, am Kindergarten zu unterrichten, wieder gestiegen.
Schulische Heilpädagogen zu finden, sei indes ein fast aussichtsloses Unterfangen. Das dürfe aber nicht weiter erstaunen, sagt Grolimund. Denn Heilpädagogen absolvierten in der Regel zuerst die Lehrerausbildung und danach nochmals ein Zusatzstudium von drei Jahren. Trotz dieser Zusatzqualifikation verdienen diese Heilpädagogen nicht mehr als die andern Lehrpersonen auf der Oberstufe. Dass diese Lohnsituation nicht besonders dazu motiviere, Heilpädagogin zu werden, leuchte wohl ein, erklärt Petermann.
Klar deshalb auch die Forderung der beiden Schulleiter: Das Lohnsystem für Lehrpersonen im Kanton Aargau muss dringend angepasst werden. Es stimmt nicht mehr. Zusatzqualifikationen werden nicht adäquat entschädigt. Sorgen bereitet Petermann der Umstand, dass nach 5 Jahren bereits gegen 50 Prozent der Berufseinsteiger nicht mehr im Lehrerberuf tätig sind. Oder in einen Nachbarkanton gewechselt haben, wo sie deutlich mehr verdienen können. Da müsse der Kanton etwas ändern. Der Lehrerberuf sei im Aargau finanziell einfach nicht mehr genug attraktiv. «Zudem ist es wenig sinnvoll und vor allem teuer, wenn der Kanton Lehrpersonen ausbildet, die dann nur kurze Zeit oder nicht im Aargau unterrichten.»
Vorstoss löst Unmut aus
Noch etwa beschäftigt Petermann und Grolimund: Die Motion der bürgerlichen Parteien, die verlangt, dass die Weiterbildung der Lehrpersonen ausnahmslos ausserhalb der Unterrichtszeit stattfinden müsse, liegt ihnen auf dem Magen. «Dieser Vorstoss richtet unglaublich viel Flurschaden an», sagt Petermann. Die neue Einschränkung komme im falschen Moment, löse grossen Unmut aus. Man werde sich dagegen wehren. Die schulhausinternen Weiterbildungen seien meistens sehr gut organisiert, der Unterrichtsausfall sei auf ein Minimum reduziert. Die Regelung hätte zur Folge, dass weniger Weiterbildungen stattfinden werden. Damit liesse sich zwar etwas Geld sparen; andrerseits müssten doch Kanton und Gemeinden grosses Interesse an Lehrpersonen haben, die sich stetig und motiviert weiterbilden.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen