9. September 2015

Nötige Korrekturen am Lehrplan 21 gefordert

Erinnern Sie sich noch lebhaft an ­spannende Geschichtsstunden aus der Schulzeit? Oder kommt eher Missmut auf, wenn Sie an langweilige Lektionen mit seitenlangen Hefteinträgen zurückdenken? Die Antworten werden ­unterschiedlich ausfallen, denn guter Unterricht hängt von der fachlichen und pädagogischen Kompetenz der Lehrpersonen ab. Die Diskussion um den neuen Lehrplan lässt allerdings oft den Eindruck entstehen, dass gute ­Bildung primär eine Sache detaillierter Planung sei.
Neuer Lehrplan ist fragwürdig, Basler Zeitung, 9.9. von Hanspeter Amstutz


Ein Blick auf den Teillehrplan Geschichte zeigt, wie sich die Bildungsverantwortlichen die innere Reform der Schule vorstellen. Neben vielen einleuchtenden Kompetenzzielen finden sich Ziele, die weit weg von der Welt der Kinder und Jugendlichen sind. Man spürt auf jeder Seite, dass hinter den verschlossenen Türen des letztjährigen EDK-Lehrplankonzils zwischen den Fachwissenschaftlern und den Lehrervertretern um praxisnähere pädago­gische Vorstellungen gerungen wurde.
Farbige geschichtliche Ereignisse werden zu leblosem Schulstoff, wenn der Ungeist eines wenig altersgemässen Reflektierens überhandnimmt. Die Pädagogen haben leider diese Gefahr nicht beseitigen können. Man reibt sich die Augen, wenn von Sechstklässlern als Grundkompetenz verlangt wird, dass sie bei den Urschweizern «den Weg von einer familienrechtlichen Gesellschaft zu einem Territorialrecht mit rechtsstaatlichen Ansätzen ­erkennen». Alles verstanden?
Noch kühner ist die Vorstellung, Kinder könnten bereits objektiv die ­Entstehung der Eidgenossenschaft beurteilen. Die Formulierung, dass «unterschiedliche Sichtweisen von Vergangenheit mit aktuellen Interessen in Zusammenhang stehen», ist wohl eher ein Kompetenzziel für Lehrpersonen.
Kinder wollen Geschichte in ­spannenden Erzählungen und ­eindrücklichen Bildern miterleben. Die Höhepunkte der Sturm-und-Drang-Zeit der Eidgenossenschaft mit den Siegen in den Burgunderkriegen interessieren Primarschüler weit mehr als eine ­aktuelle politische Deutung der ­Niederlage von Marignano.
Gut vorbereiteter narrativer Geschichtsunterricht lässt Kinder und Jugendliche in vergangene Zeiten eintauchen und das Wesentliche einer Epoche erkennen. So lässt sich die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg viel besser verstehen, wenn die Fahrt der «Titanic» während einer Woche als eine Art ­Fortsetzungsgeschichte von der Klasse miterlebt wird. Die Dreiklassengesellschaft von damals, die neuste Technik auf dem Schiff, die wirtschaftlichen Interessen der Reederei und das Schicksalhafte jener Fahrt lassen die Jugendlichen nicht unberührt. Die grossen Fragen stellen sich von allein, und dann kann man auch anspruchsvolle Überlegungen anstellen. Akademische Kompetenzziele hingegen sind für einen lebendigen Geschichtsunterricht kaum motivierend.
Für die Schulentwicklung darf der neue Lehrplan nicht unterschätzt ­werden. Dieser ist die Basis für die didaktische Ausrichtung der Pädagogischen Hochschulen. Eine kritiklose Übernahme des neuen Kompetenzenmodells in Fächern wie Geschichte oder Naturwissenschaften hat ­erhebliche Auswirkungen auf den ­täglichen Unterricht. Wünschbar wäre jetzt eine offene Diskussion über ­bessere kantonale Lehrpläne, damit die nötigen Korrekturen in die Wege geleitet werden können.


Hanspeter Amstutz, Fehraltorf, ist Mitautor des lehrplankritischen Manifests «550 gegen 550». Er war lange Zeit Zürcher Kantons- und Bildungsrat sowie Sekundarlehrer.

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