Die Gemeinschaftsschule ist das Vorzeigeprojekt der
grün-roten Landesregierung in Stuttgart schlechthin. Sie soll nicht nur das
gemeinsame Lernen ganz unterschiedlich begabter Schüler ermöglichen, sondern
dient angesichts der sinkenden Schülerzahlen an vielen Orten des Flächenlandes
Baden-Württemberg dazu, den Schulstandort zu sichern. Viele
Gemeinschaftsschulen finden sich deshalb im ländlichen Raum, ganz gleich,
welche Partei den Gemeinderat gerade regiert.
Lehrer und Schüler sind sich einig, dass zu wenig gearbeitet wird, Bild: dpa
Schwäbisches Himmelfahrtskommando, FAZ, 16.8. von Heike Schmoll
Nun wurde ein vernichtendes Gutachten über die
Gemeinschaftsschule bekannt, das vom Kultusministerium bisher unter Verschluss
gehalten wird, den Vermerk „nur intern verwenden“ trägt und der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung vorliegt. Danach gelingt weder die neue Unterrichtsform des
selbständigen Lernens mit Lehrern als Lernbegleitern noch die Inklusion oder
die besondere Förderung der Schwächsten und Stärksten. Auch die
Leistungsbeurteilung ist mehr als fragwürdig. In den Fremdsprachen kommt das
Sprechen zu kurz.
Bei der untersuchten Geschwister-Scholl-Schule mit einem überaus
engagierten Lehrerkollegium und viel Partizipation in Tübingen handelt es sich
nicht um irgendeine Gemeinschaftsschule, sondern um eine renommierte, die von
Kultusminister Andreas Stoch (SPD) gern als beispielhaft
bezeichnet wird, denn dort hat man eigentlich Erfahrung mit integrativen
Unterrichtsformen. Die 1972/73 gegründete Schule ist eine öffentliche
Verbundschule, die unter ihrem Dach zunächst eine Hauptschule/Werkrealschule,
eine Realschule und ein Gymnasium beherbergte. Vom Schuljahr 2009/10 an war sie
als Schulversuchsmodell „Erweiterte Kooperation“ (Erko) geführt worden, das
unter dem damaligen Kultusminister Helmut Rau (CDU) eingerichtet worden war.
Die Geschwister-Scholl-Schule war also bestens
vorbereitet, als die seinerzeit noch existierende Stabsstelle im SPD-regierten
Kultusministerium ihr 2012 nahelegte, sich in eine Gemeinschaftsschule zu
verwandeln. Die Schule beugte sich zögerlich, weil sie nicht den Eindruck
erwecken wollte, ihren Standort in einer Universitätsstadt mit vier weiteren
Gymnasien, einer Realschule und zwei weiteren Gemeinschaftsschulen retten zu
wollen – denn sie ist etabliert. Während die Anmeldezahlen an den beiden
anderen Gemeinschaftsschulen zum vergangenen Schuljahr 2014/15 erheblich
zurückgingen, blieben sie in der Geschwister-Scholl-Schule stabil.
Realschulen wollen kaum zur Gemeinschaftsschule
werden
Die Schule reichte kurzerhand denselben Antrag
wieder ein, der schon bei der Genehmigung des Schulversuchs Erfolg hatte. Der
damalige Schulleiter Joachim Friedrichsdorf leitet die Schule auch heute. Denn
die Gesamtleitung des Schulverbundes liegt beim Gymnasium, die Leitung der
Gemeinschaftsschule hat die Stellvertreterfunktion inne. Friedrichsdorf tourt
durch das Land und wirbt für das veränderte Lernen, wenn irgendwo eine
Gemeinschaftsschule gegründet werden soll. Nach wie vor sind es vor allem
Haupt- und Werkrealschulen, die zur Gemeinschaftsschule werden wollen.
Realschulen sind nur in wenigen Fällen dabei.
Wirklich zusammengewachsen sind die Kollegien auch
an der Geschwister-Scholl-Schule bis heute nicht, nur zwei Gymnasiallehrer
gehören zum Kollegium der Gemeinschaftsschule, sieben unterrichten in beiden
Schulformen. Über solche schulorganisatorischen Gefüge hat man sich so wenig
Gedanken gemacht wie über das „kooperative Lernen“ (Lernen mit Partner und in
Gruppen), das sogar vom Schulgesetz eingefordert wird und in Tübingen offenbar
nicht einmal in Ansätzen erkennbar ist.
Lernzeiten werden nicht effektiv genutzt
Selbst einer der entschiedensten Befürworter aus
der Bildungsforschung, der Tübinger Erziehungswissenschaftler Thorsten Bohl,
kritisiert inzwischen, dass die Gemeinschaftsschule nicht gut aufgestellt sei.
Es gebe überhaupt noch keine Forschungen zum individuellen Lernen und nicht
einmal einheitliches Unterrichtsmaterial. Die Gemeinschaftsschule gehört also
zu den bildungspolitischen Himmelfahrtskommandos, die überstürzt eingeführt
wurden. Daran ändern auch die eilig verabreichten Lehrerfortbildungen durch den
umstrittenen Schweizer Schulpraktiker Peter Fratton nichts. Immerhin hat das
Stuttgarter Wissenschaftsministerium eine auf drei Jahre angelegte
wissenschaftliche Begleitforschung etabliert, die Schwachstellen aufdecken
soll. Federführend dafür verantwortlich ist die Universität Tübingen unter
Leitung von Thorsten Bohl gemeinsam mit den Pädagogischen Hochschulen Freiburg,
Heidelberg, Schwäbisch Gmünd und Weingarten.
Mitarbeiter des Lehrstuhls Bohl haben im Rahmen
einer alltagsnahen Begleitforschung (in einer zweiten Tranche soll eine
Längsschnittbefragung folgen) jetzt die Arbeit der Tübinger Vorzeigeschule
unter die Lupe genommen. Sie haben eine Inklusionsklasse mit 19 Schülern und
eine weitere Lerngruppe mit 26 Schülern untersucht. Ausgerechnet das
individuelle Lernen, das in der Gemeinschaftsschule bei den Kernfächern in zwei
der vier Wochenstunden praktiziert werden soll, aber auch im Wahlpflichtbereich
viel Raum einnimmt, hat sich als denkbar ineffektiv erwiesen.
In Englisch, Deutsch und Mathematik arbeiten die
Schüler an der Geschwister-Scholl-Schule ausschließlich ihre sogenannten
Lernpakete ab, das sind Wochenarbeitspläne mit einem konkreten Pensum, das bis
zu einem bestimmten Zeitpunkt erledigt sein muss. Offenbar werden dafür auch
Unterrichtsstunden genutzt, die eigentlich gar nicht für das individuelle
Arbeiten vorgesehen waren. Sie machen sich weder Gedanken über ihre
Arbeitsstrategie, noch nehmen sie sich ein konkretes Pensum vor. Auch die
Lehrer unterstützen in den Arbeitsphasen wenig.
Die Schule hatte dieses Modell schon lange
entwickelt, um den völlig unterschiedlichen Begabungen ihrer Schüler
entgegenzukommen. Selten gibt es auch Aufgaben für die leistungsstarken
Schüler, häufig sehen sie identische Aufgaben für die gesamte Lerngruppe vor.
Dabei haben die motivierten und fortbildungswilligen Lehrer in die Entwicklung
der Lernpakete 121 Deputatsstunden im Gegenwert von 220.000 Euro investiert.
Lehrerzentrierte, als besonders effektiv erwiesene Unterrichtsformen und
Klassengespräche gibt es in Tübingen so gut wie nicht. Das Lerntagebuch, das
die Schüler eigentlich über das Schuljahr hinweg führen sollen, um ihr eigenes
Lernverhalten einzuschätzen, aber auch Rückmeldungen zu bekommen, dient in den
meisten Fällen nur noch als Schülerkalender. Die Schüler finden es überflüssig.
Sowohl Schüler als auch Lehrer und Eltern „waren
sich darüber einig, dass die Lernzeiten nicht effektiv genutzt werden und zu
wenig gearbeitet würde“, heißt es in dem insgesamt 38 Seiten umfassenden
sachlichen Beobachtungsbericht. Da das Lernen entweder im Gruppenraum, im
Lernatelier oder gar auf dem Flur (angeblich nur für Schüler mit
„Könner-Button“, was aber nicht kontrolliert wurde) stattfindet, mangelt es an
Disziplin. Die aktive Lernzeit sei „sehr gering und in diesem Fall häufig auch
das Ausmaß der Störungen entsprechend hoch“.
Positiv ist, dass die Eltern miteinbezogen werden
Während leistungsstärkere Schüler mit der
Selbständigkeit gut umgehen können und auch Lernstrategien beherrschen, geraten
die schwächeren noch mehr ins Hintertreffen als ohnehin schon. Den Lehrern
fehlt der Überblick, welcher Schüler woran arbeitet, welche Fortschritte er
macht und die Kontrolle der Ergebnisse kommt zu kurz. Wenn überhaupt, schauen
die Lehrer nach Vollständigkeit, Orthographie, Grammatik und Seitenzahl,
während „die inhaltliche Qualität der Schülerarbeiten hintangestellt wurde“.
Und das an einer Schule, die derlei Lernmodelle schon seit langem praktiziert?
Fragwürdig ist in den Augen der Forscher auch die
in Tübingen praktizierte Leistungsmessung. Schüler, deren Gesamtergebnis in der
Klassenarbeit unter 40 Prozent liegt, können die Klassenarbeit in neu
konzipierter Form wiederholen und das Ergebnis der schlechten Arbeit ersetzen.
Doch eigentlich verbietet die Notenbildungsverordnung, dass bereits benotete
Leistungsergebnisse gestrichen oder ersetzt werden. So müssten also beide Noten
in die Gesamtbewertung einfließen. Hinzu kommt, dass die Benotung in
unterschiedlichen Niveaustufen nach Angaben der Forscher zu wenig individuell
ist und sich mit den Anforderungen der Bildungsstandards für die drei
Schularten Gymnasium, Realschule, Hauptschule nicht deckt. Es wird auf diese
Weise zwar annähernd ein Leistungsstand in einem Fach in der Bewertung
abgebildet, aber keine Lernentwicklung.
Für die Inklusionsklassen in jedem Jahrgang gibt es
keine Vorstellungen und keine zentrale Koordination, und die Schulleitung fühlt
sich unter den derzeitigen Bedingungen schlicht überfordert. Es fehle eine
Konzeption, die Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten regele, Schulbegleiter
für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf werden kaum einbezogen.
Insgesamt seien noch mehr Gymnasial-, Haupt- und Sonderschullehrer an der
Gemeinschaftsschule nötig, um Schüler überhaupt ihren Leistungsvoraussetzungen
gemäß zu fördern. Mit anderen Worten: Der Unterrichtsalltag vollzieht sich mehr
oder weniger ungeordnet, bei den Lehrern mit mehr „Klassenführungskompetenz“,
wie die Forscher so schön schreiben, störungsärmer, bei anderen weniger.
Auch die von Grün-Rot angeprangerte frühe
Schullaufbahnentscheidung, die durch die Gemeinschaftsschule überwunden werden
sollte, ist durch die Hintertür wiedergekommen. Da Französisch nur noch von der
6. Klasse an unterrichtet wird (vorher in den Klassen 6 oder 7) und auf der
Schiene mit Technik und Mensch und Umwelt liegt, müssen sich die Schüler doch
schon früh entscheiden. Ein Teil der Schüler wird dann zusammen mit weiteren
gymnasialen Kindern aus dem Schulverbund für drei Wochenstunden in Französisch
unterrichtet, der Rest der Lerngruppen teilt sich in Technik und Mensch und
Umwelt auf. Die Unruhe ist trotz der Doppelstundenstruktur unvermeidlich.
Positiv wird notiert, dass die Eltern einbezogen werden und das Kollegium
motiviert und kritikfähig sei.
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