Wenn
die schwächsten Schüler länger in einem System mit gemeinsamer Schulbildung
verbleiben, verläuft ihr weiterer Werdegang durchwachsener. So lautet eine der
überraschenden Schlussfolgerungen der Doktorarbeit im Fachbereich Sozioökonomie
von Joëlle Latina, die sie am 13. April 2015 erfolgreich an der Universität
Genf verteidigt hat. Im Rahmen dieser Forschungsarbeit konnte die Doktorandin
auf Daten der Genfer Kantonsverwaltung zugreifen, die den Übergang von der
obligatorischen Schule zur nachfolgenden Ausbildung aller Schüler des Kantons
während zwölf Jahren zusammenfassten.
Spätere schulische Selektion macht die Ausbildung nicht leichter, Joëlle Latina, 28.4. Swiss National Centre of Competence in Research LIVES
Es geschieht nicht alle Tage, dass man
Zugang zu derart umfassenden Daten hat und zudem von einem natürlichen
Datensatz profitieren kann, der nicht eigens zu Forschungszwecken zusammengestellt
wurde. Im Rahmen eines Projekts des Leading House für Bildungsökonomie der
Universität Genf, das den Forschungsarbeiten des IP204 am Nationalen
Forschungsschwerpunkt LIVES angegliedert ist, konnte Joëlle Latina,
wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule für Wirtschaft und Verwaltung
in Genf, jedoch in einem solchen Kontext arbeiten.
Dank ihren Doktorvätern Professor José
Ramirez und Yves Flückiger, zukünftiger Rektor der Universität Genf, hatte
Joëlle Latina Zugang zu Verwaltungsdaten des Kantons Genf über fast 44'000
Schüler, das heisst über alle Jugendlichen, die zwischen 1993 und 2004 in die
Sekundarstufe I eingetreten sind. Anhand der Daten konnte sie ein
soziodemographisches Gesamtbild der Jugendlichen aus zwölf Alterskohorten
zeichnen und deren weitere Ausbildungsgänge bis drei Jahre nach Abschluss der
obligatorischen Schulzeit analysieren.
Die Studie bestätigt, dass das soziale
Umfeld für die schulischen Leistungen weiterhin prägend ist.
Nicht-französischsprachige Kinder aus Familien der letzten Einwanderungswellen
mit wenig Sozialkapital und noch weniger elterlicher Unterstützung wiesen in
der Sekundarstufe II durchwachsenere und weniger qualifizierende Werdegänge auf
als Schüler aus privilegierteren Schichten.
Übergang nach 12 oder nach 13 Jahren
Die Untersuchung wirft auch ein neues Licht auf ein weniger erforschtes Thema. Die Daten erlauben in der Tat einen Vergleich von zwei Schulkonzepten: der Übergang in weiterführende Zweige nach 12 Jahren, wie dies zu jener Zeit in den meisten Einrichtungen des Kantons üblich war, und der um ein Jahr spätere Übergang, wie er von drei Genfer Einrichtungen angewendet wurde, bis die interkantonale Harmonisierung der obligatorischen Schule dieser Form 2011 ein Ende setzte.
Die Untersuchung wirft auch ein neues Licht auf ein weniger erforschtes Thema. Die Daten erlauben in der Tat einen Vergleich von zwei Schulkonzepten: der Übergang in weiterführende Zweige nach 12 Jahren, wie dies zu jener Zeit in den meisten Einrichtungen des Kantons üblich war, und der um ein Jahr spätere Übergang, wie er von drei Genfer Einrichtungen angewendet wurde, bis die interkantonale Harmonisierung der obligatorischen Schule dieser Form 2011 ein Ende setzte.
Der Vergleich liess einen Schluss zu,
der für Joëlle Latina und ihre Doktorväter überraschend war: Die Beibehaltung
der gemeinsamen Schulzeit bis 13 Jahre ist für die schwächsten Schüler nicht
förderlich; die Wahrscheinlichkeit, dass sie in den drei Jahren nach Abschluss
ihrer obligatorischen Schulzeit den eingeschlagenen Weg ändern - manchmal sogar
mehrmals -, liegt 12 Prozentpunkte über der Wahrscheinlichkeit von
Schülern, die bereits ein Jahr früher auf eine weniger anspruchsvolle Schule
gewechselt sind.
«Während in der Literatur davon
ausgegangen wird, dass eine frühe Selektion die Ungleichheiten in der
schulischen Leistung tendenziell verstärkt, deuten unsere Ergebnisse darauf
hin, dass eine späte Selektion zu durchwachseneren späteren Werdegängen führt,
besonders bei schwächeren Schülern», betont Joëlle Latina in ihrer
Doktorarbeit.
Welches sind die Gründe für diese
unterschiedlichen Dynamiken? Laut Joëlle Latina gibt es zwei Theorien, die
erklären könnten, warum der Ausbildungsgang weniger starker Schüler mehr Brüche
und Wechsel aufweist, wenn diese länger mit leistungsstärkeren Schülern
zusammen bleiben.
Soziale Gegensätze und Statusmerkmale
Die Theorie der sozialen Gegensätze besagt, dass Individuen sich meist mit Individuen in ihrer Umgebung vergleichen und dass sie deshalb denselben Zielen nacheifern. Dies könnte für Schüler mit mässigen Ergebnissen ein Nachteil sein, da sie nicht über die Mittel verfügen, die gesetzten Ziele zu erreichen, und deshalb bei Misserfolg einen anderen Weg einschlagen müssen.
Die Theorie der sozialen Gegensätze besagt, dass Individuen sich meist mit Individuen in ihrer Umgebung vergleichen und dass sie deshalb denselben Zielen nacheifern. Dies könnte für Schüler mit mässigen Ergebnissen ein Nachteil sein, da sie nicht über die Mittel verfügen, die gesetzten Ziele zu erreichen, und deshalb bei Misserfolg einen anderen Weg einschlagen müssen.
Und gemäss der Theorie der
Statusmerkmale ist das Vertrauen, das Individuen in ihre eigenen Fähigkeiten
haben, stark von der allgemeinen Einschätzung der Gruppe beeinflusst, in der
sie sich bewegen. Deshalb führe das Vorurteil, Mädchen seien weniger gut in
Mathematik, oft dazu, dass diese sich generell unterschätzten und weniger
häufig entsprechende Studien wählten als Jungen. Auf die untersuchte Situation
bezogen würden Schüler, die früh einen berufsvorbereitenden Weg einschlagen,
sich mit eher geringeren Erwartungen abfinden, und Schüler mit späterer
Orientierung würden sich tendenziell überschätzen. Für Schüler, die ohne das
erforderliche Potential ein akademisches Studium wählen, würde diese
Fehleinschätzung zu einer häufigeren unglücklichen Studienwahl führen.
Mehr oder weniger lineare Werdegänge
In der Doktorarbeit von Joëlle Latina werden noch weitere Aspekte des Übergangs zwischen der obligatorischen Schulzeit und der nachfolgenden Ausbildung untersucht. So interessiert sie sich besonders für die Werdegänge von Lehrlingen und für Ausbildungswechsel in den drei Jahren nach Abschluss des Cycle d'orientation (Sekundarstufe I im Kanton Genf). Auch hier spielen soziale Faktoren eine wichtige Rolle. Gute Schüler wählen in der Regel eher den Weg eines Studiums anstatt einer Lehre. Junge Abgänger von Schulzweigen mit hohen Anforderungen weisen bei der Berufswahl meist geradlinigere Werdegänge auf, mit weniger Wechseln.
In der Doktorarbeit von Joëlle Latina werden noch weitere Aspekte des Übergangs zwischen der obligatorischen Schulzeit und der nachfolgenden Ausbildung untersucht. So interessiert sie sich besonders für die Werdegänge von Lehrlingen und für Ausbildungswechsel in den drei Jahren nach Abschluss des Cycle d'orientation (Sekundarstufe I im Kanton Genf). Auch hier spielen soziale Faktoren eine wichtige Rolle. Gute Schüler wählen in der Regel eher den Weg eines Studiums anstatt einer Lehre. Junge Abgänger von Schulzweigen mit hohen Anforderungen weisen bei der Berufswahl meist geradlinigere Werdegänge auf, mit weniger Wechseln.
Schliesslich hat Joëlle Latina auch
Übergänge innerhalb der Berufsausbildung genauer betrachtet, nämlich die
Übergänge zwischen ausschliesslich schulischer Ausbildung und praktischer
Berufslehre. Diese Übergänge sind bisher kaum untersucht worden, auch wenn
davon ungefähr ein Fünftel der Handelsschüler in Genf betroffen sind. Beim
Übergang von einer schulischen Ausbildung zu einer Lehre erhöht sich unter
gleichbleibenden übrigen Bedingungen die Wahrscheinlichkeit, dass die jungen
Menschen einen Abschluss der Sekundarstufe II erlangen; hingegen verlängert
sich durch den Übergang die Ausbildungszeit im Durchschnitt um ein Semester.
Konsequenzen für die Politik
Die Wissenschaftlerin fordert eine verbesserte horizontale Durchlässigkeit des Berufsbildungssystems, damit Wechsel ohne Zeitverlust möglich sind, insbesondere durch eine transversale Anrechnung von Ausbildungszeiten, wie dies derzeit in Deutschland im Projekt DECVET getestet wird.
Die Wissenschaftlerin fordert eine verbesserte horizontale Durchlässigkeit des Berufsbildungssystems, damit Wechsel ohne Zeitverlust möglich sind, insbesondere durch eine transversale Anrechnung von Ausbildungszeiten, wie dies derzeit in Deutschland im Projekt DECVET getestet wird.
Für die obligatorische Schulzeit
empfiehlt sie eine gezieltere Fokussierung auf mehrfach benachteiligte Gruppen
und eine Verbesserung der Beratung für Übergänge, um Sackgassen zu vermeiden.
Aus ihrer Sicht müsste anhand von Praktika besser über Berufslehren informiert
werden, und bei Schülern, die keinen akademischen Weg einschlagen werden,
müsste die Ausbildungspolitik stärker auf kontextbezogene als auf abstrakte
Kompetenzen setzen.
Eine blendende Zukunft
Nach der Verteidigung ihrer Doktorarbeit lobte die Jury die Arbeit von Joëlle Latina und bewertete sie als «weit überdurchschnittlich». Sie habe «methodisch solide» gearbeitet, befand Rainer Winkelmann, Professor an der Universität Zürich, und Yves Flückiger fügte hinzu, dass ihr «eine blendende Zukunft bevorsteht». In unmittelbarer Zukunft wird die doktorierte Soziologin ihre begonnene Forschungsarbeit fortsetzen und auch longitudinale und vergleichende Daten mit einbeziehen.
Nach der Verteidigung ihrer Doktorarbeit lobte die Jury die Arbeit von Joëlle Latina und bewertete sie als «weit überdurchschnittlich». Sie habe «methodisch solide» gearbeitet, befand Rainer Winkelmann, Professor an der Universität Zürich, und Yves Flückiger fügte hinzu, dass ihr «eine blendende Zukunft bevorsteht». In unmittelbarer Zukunft wird die doktorierte Soziologin ihre begonnene Forschungsarbeit fortsetzen und auch longitudinale und vergleichende Daten mit einbeziehen.
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