"Man muss akzeptieren, dass man nicht alles besser weiss", NZZ, 5.5. von Walter Bernet
Frau Aeppli, welche
Rolle spielte es für Sie als Bildungsdirektorin, eine Mutter zu sein?
Ich
habe das Muttersein nie politisch analysiert und auch nie aus persönlichen
Erfahrungen heraus Politik gemacht. Eine Rolle spielte, dass meine Kinder die
städtische Tagesschule Bungertwies besuchten. Das war für unsere Familie ein
grosses Glück. Ich habe dort die vielen Vorteile einer Tagesschule mit einer
starken Schulgemeinschaft erlebt.
2003
traten Sie Ihr Amt als «Ungelernte» an. Sie hatten nie ein Exekutivamt inne und
waren keine Bildungspolitikerin. Wie lernten Sie schwimmen?
Ein
Sprung ins kalte Wasser war es für mich nicht. Ich fühlte mich durch meine je
zwei Amtsperioden im Kantons- und im Nationalrat gut vorbereitet. Ich wurde ja
nicht zur Oberlehrerin des Kantons gewählt, sondern um Entscheidungsverfahren
zu leiten und die Gesetzgebung mitzugestalten und durchzubringen.
Bildungspolitik ist so gesehen ein Politikfeld wie jedes andere. Natürlich
musste ich mich einarbeiten.
Trotzdem
haben Sie in den zwölf Amtsjahren wohl einige Lernprozesse mitgemacht. Welche
waren prägend?
Rasch
spürte ich, dass die Volksschule einem Tanker gleicht. Bei einem Tanker darf
man das Steuer nicht einfach herumreissen. Man muss die Kurven sorgfältig
nehmen und alle Beteiligten mitnehmen. Ich hatte das neue Volksschulgesetz
umzusetzen. Ein solches Gesetz ist wie der Plan eines Hauses. Bis dieses gebaut
ist und alles funktioniert, braucht es Geduld. Anfänglich waren zum Beispiel
die Schulleitungen sehr umstritten. Heute ist die geführte Schule gut
akzeptiert. Eine Umkehr wäre undenkbar. Ein anderes Beispiel ist die Berufslehre.
Als ich begann, herrschte eine grosse Lehrstellenkrise. Heute ist die
Berufslehre zum Exportschlager geworden, und viele Dienstleistungsunternehmen
setzen wieder auf sie. In gewissen Branchen ist es schwierig geworden, Lernende
zu finden. Dass sich das so stark geändert hat, ist nicht primär das Verdienst
der Politik. Aber die Politik hat auch ihren Beitrag geleistet, zum Beispiel
mit Brückenangeboten für leistungsschwächere Jugendliche.
Was
ist typisch für die Bildungspolitik?
Von
grösster Bedeutung ist der Dialog mit allen Beteiligten in der Schule und ihrem
Umfeld. Schulen sind Expertenorganisationen. Mit Experten muss man diskutieren
und dabei akzeptieren, dass man nicht alles besser weiss. Als ich anfing,
stritten sich Hochschulen und Mittelschulen um den für ein Studium nötigen
Bildungsrucksack. Die Hochschulen wollten selber bestimmen, wen sie aufnehmen.
Mit dem Projekt HSGYM konnte die Schnittstelle Fach für Fach von
Mittelschullehrern und Hochschuldozenten einvernehmlich bereinigt werden. Beide
Seiten haben voneinander gelernt, der Disput über die Deutungshoheit bei der
Studierfähigkeit ist völlig verklungen. Das sind Lösungswege, die mir
entsprechen.
Gibt
es eine generelle Erkenntnis aus Ihrer Tätigkeit als Bildungsdirektorin?
Es
ist die Einsicht in den enorm hohen Stellenwert der Bildung in unserer
Gesellschaft. Das hat mit dem Verlust an Gewissheiten zu tun. Heute landet ein
Kind aus einer Akademikerfamilie nicht mehr automatisch in einem akademischen
Beruf. Die Ansprüche im Arbeitsmarkt sind gewachsen, der Wettbewerb um gute
Stellen ist härter geworden. Bildung ist zum Kapital geworden, mit dem man im
Leben seinen Platz findet. Sie muss den Menschen die methodische Kompetenz
vermitteln, neue Problemstellungen lösen zu können, und sie muss das Ziel
haben, die Menschen zu Selbständigkeit und Unabhängigkeit zu befähigen oder –
in einem altertümlichen Sinn – zu erziehen, damit sie ihren Weg finden und
gehen können.
Was
konnten Sie 2003 nicht, was Ihnen heute unabdingbar erscheint?
Ich
hatte mich vorher nie vertieft mit Finanzpolitik beschäftigt. 2003 musste ich
mich dann sehr schnell mit Abläufen und Fragestellungen rund um die Finanzen
auseinandersetzen.
Es
ging um harte Sparmassnahmen.
Eben!
Das dicke Sparpaket San04 war das einschneidendste in all den Jahren. Ich werde
es nach dem Rücktritt zu Hause ins Büchergestell stellen. Gelernt habe ich
damals, dass die Bildung zwar nicht ganz immun gegen das Sparen ist, aber einen
starken Rückhalt in einer Bevölkerung geniesst, die an ihr keine Abstriche machen
will. Das bewiesen die fünf gegen das Sparpaket zustande gekommenen
Volksinitiativen. Keine davon kam vors Volk, weil das Parlament
zurückbuchstabierte oder ihre Anliegen in neuen Gefässen umsetzte. Das hat mich
in späteren Sparrunden gestärkt.
Bildung
von der Wiege bis zur Bahre – was bedeutet das für Sie?
Ich
habe mit allen Vorstellungen, die mit Lebenslänglichkeit verbunden sind, etwas
Mühe. Es müsse auch ein Recht auf Vertrottelung geben, sagte ein Philosoph
einmal. Das hat mir irgendwie eingeleuchtet. Der Anspruch, sich ständig
weiterzubilden, geht in Richtung einer Leistungsmaxime, die ich relativieren
möchte. Aber trotzdem wünsche auch ich mir, mich weiterzuentwickeln.
Was
muss ein vierjähriges Kind können?
Wenn
man den Lehrplan für den Kindergarten anschaut, kommen einige Anforderungen
zusammen. Ich möchte die Frage aber von einer andern Seite angehen. Ist es
nicht manchmal eher das Problem der Eltern, dass sie ihre Kinder nicht
loslassen können? Es wird in die Schule oder den Kindergarten gefahren und
damit von einer Autorität direkt an die nächste übergeben. Dabei wäre der
Schulweg so wichtig für seine Entwicklung. Die Frage wäre also: Was können die
Eltern beitragen, damit bei ihrem Kind Entwicklungen und Lernprozesse in Gang
gesetzt werden? Unsere Kurzfilme über Lerngelegenheiten für Kinder bis vier
zeigen konkret, welche Vielfalt an Möglichkeiten zum Lernen der Alltag bietet –
vom Aufhängen der Wäsche bis zum Schneiden von Gurkenscheiben. Deutlich wird
dabei, dass Lernen einfach geschieht, wenn die richtigen Anreize dazu da sind.
Was
ist mit den Kindern, die solche Lerngelegenheiten zu Hause nie hatten und auch
in der Schulzeit nicht haben?
Das
Drama, dass die familiäre Herkunft für den Bildungserfolg eine so grosse
Bedeutung hat, beschäftigt uns sehr und wird uns noch lange beschäftigen. Für
mich ist das Stichwort Tagesschule auch in diesem Zusammenhang wichtig.
Überdies wissen wir aus dem Projekt Chagall für begabte jugendliche
Migrantinnen und Migranten: Wenn intelligente und leistungsstarke Jugendliche
keine Familie haben, die sie unterstützen kann, brauchen sie Unterstützung von
anderer Seite, um ihr Potenzial auszuschöpfen. Ich stehe voll und ganz hinter
dem Anspruch auf Chancengleichheit, aber sie wird wohl immer eine
Herausforderung bleiben.
Wie
fördert die Schule die Kleinen, damit sie nach vielen Jahren gerüstet in die
Berufswelt entlassen werden können?
Unsere
Schulen haben gelernt, dass sie mit riesigen Unterschieden zwischen den Kindern
umgehen können müssen. Kinder entwickeln sich ja nicht linear.
Entwicklungsschübe nur schon festzustellen und dann richtig darauf zu
reagieren, ist sehr anspruchsvoll. Es ist eine grosse Aufgabe, dass jedes Kind
entsprechend seinen Fähigkeiten gefördert wird, ohne über- oder unterfordert zu
werden. Der Beruf der Lehrerin und des Lehrers stellt hohe Ansprüche.
Was
darf ein Kind an individueller Zuwendung erwarten, was nicht?
Das
Kind soll von der Lehrperson Gerechtigkeit erwarten können. Kinder reagieren
sehr empfindlich, wenn eine Lehrperson Lieblinge hat und andere nicht mag.
Nützlich ist es, wenn die Lehrperson mit Humor ausgestattet ist. Das hilft,
schwierige Situationen zu entschärfen. Wichtig sind Zuwendung, Geduld und die
Gewissheit, ernst genommen zu werden. Wenn ein Kind spürt, dass es akzeptiert wird,
kann es auch mit Kritik und Zurechtweisungen umgehen.
Wie
kann man Bildungserfolg herstellen? Lässt sich das überhaupt steuern?
Bildung
ist ein gesellschaftliches Thema von höchster Relevanz, aber stark mit dem
Gedanken an Leistung und Wettbewerb verbunden. Mein Eindruck ist, dass
diejenigen, die es sich zutrauen, an diesem Wettbewerb auch teilnehmen und
etwas erreichen wollen. Die Frage ist die nach der Halbwertszeit des Gelernten.
Rein auf Anwendung ausgerichtete Wissensvermittlung veraltet relativ schnell.
Darum musste ich lachen, als ich kürzlich in einer deutschen Zeitung las: «Die
Arbeitsfähigkeit beginnt im Kindergarten.» Bildung muss Wissen und
Methodenkompetenz vermitteln, also die Fähigkeit, Veränderungen methodisch
anzugehen und einzuordnen. Es geht auch um kulturelles und soziales Lernen, um
das Verstehen von Zusammenhängen. Es ist nicht Aufgabe der Schule, den Unterricht
ausschliesslich auf die ökonomische Verwendbarkeit auszurichten.
Die
Schule bildet, integriert und selektioniert. Wie lassen sich diese zum Teil
widersprüchlichen Ansprüche erfüllen?
Die
Schule hat diese Aufgaben schon immer unter einen Hut gebracht. Neu sind die
Dimensionen. Die Unterschiede sind wegen der Multikulturalität wesentlich
grösser geworden und für viele Schulen eine enorme Herausforderung, namentlich
im städtischen Umfeld.
Neu
ist wohl auch, dass die Selektion der Schulen stärker hinterfragt wird. Man
misst sie beispielsweise an der Chancengerechtigkeit.
Wir
leben diesbezüglich in einer guten Welt. Früher gab es für wenige den Königsweg
über das Gymnasium an die Hochschule, für die anderen gab es die Berufslehre.
Heute ist die Bildungswelt durchlässig geworden. Es gibt die Berufsmaturität,
die Fachhochschulen, die Passerelle an die Universität. Es stehen viele Wege
offen, um den Platz zu finden, den man anstrebt. Insofern ist die Selektion
nicht mehr so gesellschaftsbildend, wie sie es einmal war.
Wenn
man es packt!
Auch
wenn man es nicht packt, hat man mehr Möglichkeiten als früher. Der Satz «No
child left behind» stimmt zwar nicht in jedem Fall, aber die Gesellschaft
bemüht sich wirklich darum, ihm nachzuleben. Ich denke an Berufsvorbereitungsjahre,
an das Case-Management in der Berufsbildung für solche, die vom Karren zu
fallen drohen.
Auf
den Leistungsdruck reagiert die Schule mit der Abschiebung von Schülern, die
nicht hineinpassen, in Sonderschulen und ähnliche Einrichtungen.
Das
kann man nicht so sagen. Was haben wir nicht alles für die Integration getan!
Ich wusste von Anfang an, dass die Umsetzung des Integrationsgedankens die
schwierigste Vorgabe des Volksschulgesetzes sein wird. Zwar wurde schon seit
den 1990er Jahren in vielen Schulen integriert unterrichtet und der Umgang
damit geübt. Aber es gab auch eine grosse Gruppe, die nicht an die Integration
glaubte. Jetzt sind selbst die Voraussetzungen für die Sonderschulung in der
Regelschule geschaffen, und es stehen Mittel dafür zur Verfügung. Es ist alles
da, um zu integrieren.
Trotzdem
ist die Zahl der Sonderschüler kaum zurückgegangen.
Ja,
ich weiss. Man muss die Fälle differenziert anschauen. Ich bin nicht sicher, ob
sich die Gesellschaft verändert hat oder ob es einfach viel mehr Möglichkeiten
in der Diagnostik und Therapie gibt, um auf Sonderbedürfnisse einzugehen. Die
Frage ist, ob wir in der Lage sein werden, all die Angebote aufrechtzuerhalten.
Wichtig sind jedenfalls einheitliche Instrumentarien für die Abklärung der
Sonderfälle.
Kann
die öffentliche Volksschule den Tendenzen zu individuelleren
Bildungsansprüchen, zur Käuflichkeit von Bildung und zum Verlust des
Wissensmonopols widerstehen?
Das
ist eine komplexe Problematik, die auch mit der Frage zusammenhängt, was denn
eine Gesellschaft ausmacht. Gesellschaft ist eine Form der Organisation, in der
sich Menschen zusammentun, sich Ziele und Aufgaben geben und eine gemeinsame
Kultur entwickeln. Damit man sich darüber verständigen kann, braucht es
Bildung. Bildung ist ein öffentliches Gut. Wenn man wie ich am Anspruch der
Chancengleichheit festhält, dann darf sie wie das Wasser nicht privatisiert
werden, denn sie ist auch lebenswichtig. Den Umgang mit dem Verlust des
Wissensmonopols üben wir ja schon seit einiger Zeit.
Wie
sieht Ihre ideale Schule der Zukunft aus?
Ich
bin weder Pädagogin noch Lehrerin, spreche also nicht als Fachfrau. Aber es
gibt Parallelen zwischen der Schul- und der Arbeitswelt. In beiden geht es um
das Verhältnis von Individuum und Kollektiv. In der Verwaltung ist zum Beispiel
Home-Office ein grosses Thema. Wir begegnen ihm mit Zurückhaltung. Zwar muss am
Ende des Tages jeder seine Leistung bringen, aber der Austausch, der vielleicht
vor der Kaffeemaschine springende Funke, hat einen enormen Einfluss darauf.
Dasselbe gilt für die Schule. Sie ist eine der letzten Institutionen, wo sich
alle begegnen und vertragen müssen.
Das
heisst, Ihre Zukunftsschule wäre ein Haus, in dem Schüler und Lehrer noch mehr
gemeinsame Zeit verbringen?
Da
sind wir wieder bei der Tagesschule. Schüler lernen voneinander auch beim
Mittagessen oder in der Mediothek, Lehrer lernen von Betreuern und umgekehrt.
Die Schule wird zum Bildungshaus.
Welche
Rolle spielen in dem Bildungshaus die in Ihrer Amtszeit eingeführten
Neuerungen, etwa die Fremdsprachen auf der Primarstufe?
Wir
sind eine Willensnation, und eine solche lebt vom Austausch. Ich lese leider
kaum welsche Literatur, und wenn ich einer welschen Kollegin von einem Text von
Peter von Matt vorschwärme, fragt sie, wer das sei. Es braucht Anstrengungen,
den Austausch zu verbessern, und deshalb weiterhin Französischunterricht. Das
Englisch ergibt deshalb Sinn, weil es schon kleinen Kindern auf Schritt und
Tritt begegnet und ihre Neugierde weckt. Das ist ein sinnvoller Lernanstoss.
Meine Haltung ist die gleiche geblieben: Es braucht beide Fremdsprachen, aus je
eigenen Gründen.
Und
die integrierte Sonderpädagogik?
Aus
der Unruhe, welche die vielen Teilzeitpensen und Fachkräfte in die
Klassenzimmer getragen haben, ist der Schulversuch «Fokus starke Lernbeziehungen»
entstanden, in dem zwei Lehrpersonen auch die einfacheren Angebote der
Förderung und Therapie übernehmen. Weil von Lehrpersonen ohnehin verlangt wird,
dass sie mit Hoch- bis Minderbegabten und Sonderschülern umgehen können, muss
diese Art von Sonderpädagogik, die in jedem Klassenzimmer erforderlich ist,
Teil der Lehrerausbildung werden. Ein solcher Studiengang für die Primarstufe
ist in Vorbereitung. Selbstverständlich bleiben die schweren Fälle weiterhin
den Spezialisten vorbehalten.
Wie
geht es in Ihrer Bildungskarriere weiter? Mit «Reisen bildet», Learning by
Doing oder mit einem Studienabschluss im AHV-Alter?
Es
wird ein bisschen von allem sein. Beim Reisen ist es nicht mein primäres
Bedürfnis, mich weiterzubilden. Es soll mich erfreuen, auf andere Gedanken
bringen und auch dazu anregen, die eigene Welt zu reflektieren. Ich möchte mich
aber weiterhin nützlich machen. Um den Sprachunterricht zu verbessern, müsste
man den Austausch zwischen den Sprachregionen intensivieren. Die ch-Stiftung stellt
dafür Mittel zur Verfügung, aber jemand muss das auch organisieren. Wenn ich
dazu einen Beitrag leisten könnte, würde ich es gerne machen, weil es mir am
Herzen liegt. Learning by Doing habe ich jetzt lang praktiziert. Ich bin
jemand, der gerne systematisiert. Deshalb überlege ich mir, zum Beispiel einen
Weiterbildungs-Master in Public Administration zu machen, um das Gelernte
einordnen und künftige Aufgaben systematischer anpacken zu können. Wenn ich als
Bildungsdirektorin ein Projekt lancierte, wurde es meist von Mitarbeitern
aufgegleist. Ich möchte diese Arbeit auch selber machen können.
Sind
Sie in den vielen Jahren in der Politik weiser geworden? Oder haben Sie vor, es
jetzt zu werden?
(Lacht.)
Ich habe die Weisheit bisher noch nicht als grosses Lebensziel für mich
betrachtet. Und ich habe noch nicht die Distanz, um das zu beurteilen; ich
stecke mittendrin. Deshalb lasse ich die Dinge jetzt auf mich zukommen und
hoffe, das auch auszuhalten.
Ein Leserbriefschreiber aus der NZZ vom 7.5. kommentiert diesen Beitrag folgendermassen:
AntwortenLöschenVergesslicher Journalist
In der NZZ vom 5. Mai zieht Regine Aeppli in einem Interview von Walter Bernet Bilanz. Sie antwortet auf Fragen nach dem Muttersein als Politikerin, nach der Steuerbarkeit der Bildungslandschaft und nach politischen Lernprozessen in der Regierung, nach ihrer Post-Polit-Karriere und ob sie weiser geworden sei. Ein ganz nettes Interview, wie es sich zum Abschluss gehört nach zwölf Jahren Tätigkeit als Regierungsrätin. Aber da fehlt doch etwas, oder? Ganz richtig: keine einzige Frage nach der unseligen Mörgeli-Affäre an der Uni Zürich. Dabei hängt an dieser Affäre doch so ziemlich alles, was einer Politikerin das Leben schwermachen kann. Auch so manches, was die Leser und das Publikum ganz allgemein wissen möchten: Hat sie nun dem ehemaligen Universitätsrektor Andreas Fischer die Entlassung von Prof. Mörgeli «befohlen»? Auf jeden Fall hat der Kantonsrat entscheiden müssen, die Immunität von Regine Aeppli nicht aufzuheben (NZZ 24. 2. 15). Und seit Montag steht der Rektor als alleiniger Sündenbock in der Politlandschaft (NZZ 4. 5. 15).
Zu dieser zugegebenermassen komplexen Affäre - kein Wort. Dabei wäre dem Journalisten sicher eine nette Frage dazu eingefallen. Kann der Leser noch von unabhängigen Journalisten ausgehen? Wie liberal ist die NZZ, wenn es nicht um Finanzfragen geht? Erträgt das politische Klima im Kanton Zürich keine kritischen Fragen mehr, auch wenn sie nett gestellt werden? - Der Leser wundert sich.
Leo Suter, FL-Triesen