Insgesamt 1600 Schüler wurden während ihrer gesamten Schulzeit begleitet, Bild: Simon Tanner
Die Schule braucht Nachhilfe, Tages Anzeiger, 19.3. von Daniel Schneebeli
Bereits
die letzte Pisa-Studie hat für Zürich keine guten Ergebnisse hervorgebracht.
Fast durchwegs schlossen die Zürcher Schüler im Vergleich mit anderen Schweizer
Kindern unterdurchschnittlich ab. Nun zeichnet eine weitere Studie ein
unvorteilhaftes Bild. Das Institut für Bildungsevaluation an der Uni Zürich hat
rund 1600 Zürcher Kinder durch ihre ganze Schulzeit begleitet. Es hat sie nach
drei, sechs und neun Schuljahren getestet und über ihre Fortschritte in Deutsch
und Mathematik Buch geführt. Die Schweizerische Koordinationsstelle für
Bildungsforschung hat diese Woche auf die Studie hingewiesen.
Die Auswertung der Tests
zeigt, dass die Jugendlichen ihr Wissen in den letzten drei obligatorischen
Schuljahren nicht stark vermehren konnten – weder in der Sekundarschule noch im
Langzeitgymnasium. Speziell gilt dies im Fach Mathematik. Hier konnten die
Jugendlichen in drei Jahren nur noch gut 40 Punkte zulegen. Die Experten
zeigen sich erstaunt: «Dieses Resultat lässt aufhorchen», heisst es im Fazit
der Studie. Der Lehrplan und der Unterricht seien in der Sekundarschule
ungeeignet, um die mathematischen Fähigkeiten wesentlich zu steigern.
Der Studienleiter Urs
Moser sieht das Problem vor allem in der Art der Stoffvermittlung. In der
Primarschule werde mehr geübt, zudem würden die Themen in späteren Schuljahren
wieder aufgegriffen, vertieft und erweitert. Das sei in der Sek nicht der Fall.
«Dort wird von einem Thema zum anderen gehüpft», sagt Moser. Das Wissen werde
in der Sek zu wenig gefestigt. Die Experten hoffen nun auf Besserung mit dem
Lehrplan 21.
Muttersprache
unerheblich
Negatives haben sie auch
zur Entwicklung der Motivation festgestellt. Über die ganze Schuldauer nimmt
sie ab. Dies sei teils ein entwicklungspsychologisch «natürlicher Prozess».
Zudem würden steigende Anforderungen die Schulfreude dämpfen. Besonders stark
nimmt die schulische Motivation der Langzeitgymnasiasten ab. Die Forscher
führen dies darauf zurück, dass sie sich in der neuen Klasse mit lauter guten
Schülern behaupten müssen und dort nicht mehr automatisch die Besten sind.
Unter dem Strich bleibt aber die Motivation der Gymnasiasten höher als jene der
Sek-A- und -B-Schüler.
Unterschiedlich
entwickelt sich die Motivation auch in den Fächern. Im Deutsch bleibt sie in
den Sekundarschuljahren praktisch konstant, während sie in der Mathematik
einbricht – und zwar in allen Schulstufen. Die Forscher empfehlen deshalb
attraktivere Methoden im Mathematikunterricht.
Enttäuschend ist auch
der Befund zu den Kindern aus sozial benachteiligten Familien. Gemäss der
Studie gelingt es den Kindern trotz individueller Förderung nicht, ihren
Rückstand, der schon beim Schuleintritt festgestellt wurde, zu verringern – im
Gegenteil. Die Kinder aus schlecht gebildeten Familien lernen zwar auch dazu,
aber der Abstand zu Kindern aus privilegierten Familien wächst bis zum Ende der
Schulzeit stark an. Urs Moser meint dazu: «Nichts kann eben die Unterstützung
eines gebildeten Elternhauses ersetzen.»
Aufgeräumt wird zudem
mit dem Vorurteil, die Muttersprache entscheide über den Schulerfolg. Bei
gleicher sozialer Herkunft erreichen fremdsprachige Kinder dieselben
Fortschritte wie Kinder mit deutscher Muttersprache.
Kritik übt
Bildungsforscher Moser am Umgang mit schwachen Schülern. Von den rund 1600
Testschülerinnen und ‑schülern mussten 18 Prozent ein Jahr repetieren – am
häufigsten in der Sekundarschule, wo die schulische Motivation am tiefsten ist.
In Ausnahmefällen kam es in der gleichen Schullaufbahn sogar zu zwei
Repetitionen. Moser meint dazu: «Das ist keine wünschenswerte Entwicklung.» Es
sei wissenschaftlich erwiesen, dass Repetitionen kaum positive Effekte hätten.
Eine Klasse übersprungen hat im Übrigen gut ein Prozent der Kinder.
Lehrerverband ernüchtert
Die Präsidentin des
Zürcher Lehrerinnen- und Lehrerverbandes (ZLV), Lilo Lätzsch, ist ernüchtert.
Es sei dringend nötig, die Situation der schwachen Schüler zu verbessern –
speziell in der Mathematik. Das neue Lehrmittel sei zwar attraktiv, aber nur
für die Starken. Lätzsch fordert neues Übungsmaterial.
Eine grosse Enttäuschung
ist für sie, dass es der Schule nicht gelingt, soziale Nachteile zu verringern.
Eine Ursache sieht sie beim Kanton, der sich aus der Frühförderung
verabschiedet habe. Der Kantonsrat hat dies vor einiger Zeit zur
Gemeindeaufgabe erklärt, was laut Lätzsch unter dem heutigen Spardruck
vielerorts einem Verzicht gleichkommt. Geradezu «geschockt» ist sie über die
grosse Zahl von Repetenten. Sie habe nur wenige Repetitionen erlebt, die etwas
gebracht hätten: «Ein Schwan wird eben nie so fliegen können wie ein Adler.»
Die Langzeitstudie ist
im Übrigen nicht zu Ende. Nun wird Urs Moser untersuchen, wie die Berufs- und
Schullaufbahnen der 1600 Kinder nach der Volksschule weitergehen.
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