Im zweiten Teil seiner Serie über die Rolle der Lehrerverbände angesichts des Lehrplans 21 geht Fritz Tschudi ins Gericht mit dem Bündner Lehrerverband LEGR.
Lehrerverbände - Back to the Roots, von Fritz Tschudi, 24.3.
„Ein bestimmter Inhalt fasziniert, lässt nicht mehr los und
erhält dadurch eine Verbindlichkeit, …auf die der Mensch … genötigt ist, durch
die Ausbildung bestimmter Kompetenzen zu antworten, um dem Anspruch der Sache
gerecht werden zu können.“
„Genau um diese Faszination, die von einer Sache,… einer Frage ausgehen
kann, werden kompetenzorientiert unterwiesene Kinder und Jugendliche gebracht;
sie werden damit um die Chance betrogen, überhaupt ein substanzielles Interesse
an der Welt und an sich selbst entwickeln zu können. Gerade die viel gerühmte
„Selbstkompetenz“ erweist sich als ungeheuerliches Betrugsmanöver, an dessen
Ende die Phraseologie des Selbst jede Art der Selbsterkenntnis sabotiert.“
Dieser kleine Auszug aus „Geisterstunde
– Die Praxis der Unbildung“ von Prof. Konrad Paul Liessman (Uni Wien),
zeigt, wie fahrlässig und verantwortungslos es erscheinen muss, sich als
Fachperson der Debatte um die Kompetenzorientierung des neuen Lehrplans bewusst
zu entziehen.
Jede Reform beinhaltet Zündstoff. Wenn wir Vertrauen gefährdende
Reformdiktate verhindern wollen, müssen wir ernst machen und uns aktiv um
gründliche Informationen und fundierte Debatten kümmern. Wie im ersten Teil
gezeigt, liegt die Verantwortung hierfür ganz wesentlich bei den
Lehrerverbänden.
Nach längerer Beobachtung des einseitigen Gebarens der
Geschäftsleitung unseres Vereins
„Lehrpersonen Graubünden“ (LEGR), dem ich seit 48 Jahren angehöre,
beschloss ich, einige Fragen und Anregungen an die Verantwortlichen zu richten.
Der Auslöser für meine „Intervention“ war die Themennummer des „Bündner
Schulblatts“ (August 2014) zum Lehrplan 21, unter dem Titel „Kompetenzorientierung“.
Hier kamen aber ausschliesslich Befürworter aus der PHGR und einige
sonstige Propagandisten (u.a. zum Konstruktivismus) zu Worte:
Die Kompetenzorientierung des LP21 wurde als absolut unverzichtbar dargestellt,
„woran kein Weg vorbeiführt“, wohl auch in der Hoffnung, einmal mehr jeden
Diskurs im Keime zu ersticken. Weiter erfuhr der Leser im Beitrag „Vom
Ausgeliefert-Sein zur Selbstwirksamkeit“ nur Gutes über den
konstruktivistischen „Unterricht“. Schliesslich wurden die Bündner Lehrpersonen
in einem weiteren Text darüber belehrt, dass Menschen lernfähig –
aber unbelehrbar
(!) seien.
·
K e i n e Fragen, k e i n e Kritik, k e i n e Debatte
Mein Bemühen um ein vereinsinternes Umdenken blieb ohne substanzielle
Antwort. Im Austausch per E-Mail erreichten mich hauptsächlich Floskeln, welche
das Verhalten der Geschäftleitung als offen und vorbildlich, keinesfalls aber als
kritikwürdig erscheinen liess. Die Verbandsleitung empfand meine Fragen und die
konkreten Anregungen offensichtlich als inakzeptable Zumutung in einer
verfehlten „Tonalität“. Offensichtlich sollte der Störenfried möglichst umgehend
und still zum Schweigen gebracht werden.
Wenn der Lehrerverband als
potenzieller Vetoplayer den Job der Propagandisten macht, ist ihm kollegiales
Schulterklopfen von dieser Seite sicher. Damit aber hat sich’s, Handfeste
Zugeständnisse an die Bedürfnisse der Lehrerinnen und Lehrer bleiben
Wunschdenken, weil devotes Verhalten als Schwäche interpretiert wird. Das weiss
jeder Gewerkschafter.
Was die Öffentlichkeit zum LP21
& Co. via „Bündner Schulblatt“ bisher erfahren konnte, muss als von
Naivität triefender Support zugunsten der Propagandisten gewertet werden. Es ist
zu vermuten, dass die Mehrheit der Bündner Lehrpersonen wenig Ahnung hat,
welche konkreten Veränderungen durch die Kompetenzorientierung und den pädagogischen
Konstruktivismus auf sie zukommen werden. Wenn selbst die aktuell laufende Umpolung
des bildsamen Unterrichts in sein pures Gegenteil nicht ausreicht, die Verantwortlichen
aus ihrer Problemresistenz zu erwecken, wird der hiesige Lehrerverein unaufhaltsam
weiter zur Manipuliermasse verkommen.
Ins Repertoire der Verbandsleitung
gehört endlich ein Update der Selbstkompetenz. Eigenständige Beurteilung von
Neuerungen, selbstbewusstes Auftreten, sowie Beharrlichkeit bei Verhandlungen
sind matchentscheidend. Erziehungswissenschaft bietet keine fixen Wahrheiten,
welche jede Debatte erübrigen könnten. Ganz im Gegenteil, ausgewogene
Informationen und Diskurse sind unverzichtbar, denn erziehungswissenschaftliche
Aussagen sind im bildungspolitischen Kontext Meinungen unter anderen.
·
Dem
Bündner Lehrerverband fehlt das Musikgehör
Anregungen zur Entwicklung des Musikgehörs: Haben die
Ansprüche und Erwartungen der Schule und der Mitglieder Priorität? Zeigen die Verbandsverantwortlichen
die Bereitschaft, Zumutungen des pädagogischen
Mainstreams oder Bevormundungsversuche durch die PH gehörig in die Schranken zu
weisen? Weiss die Verbandführung um die „wackelige“ Wissenschaftlichkeit
mancher Reformen (z.B. Kompetenzorientierung/ Konstruktivismus)? Akzeptiert sie
die Umsetzung von Reformen ohne Nachweis einer klar positiven Praxis?
Akzeptiert sie widerspruchslos die Eingriffe der OECD in unsere Bildungs-Souveränität,
die zunehmende Zentralisierung im Volksschulwesen, Machenschaften mit
fraglicher politische Legitimation, die wachsende Chancenungerechtigkeit, die
dramatische Zunahme der Lerndefizite an den Schulen, ideologische Willkür, den
Trend zur Gleichschaltung der Lehrpersonen, die Macht der theoretischen Wissenschaften
im Bildungs- und Erziehungsbereich, den wachsenden Ausschluss der Bürger aus
der Mitverantwortung im Volksschulwesen, top-down Diktate bei Reformen, die
zunehmende Bevormundung der Lehrpersonen, die schleichende Abschaffung der
Methodenfreiheit?
In dieser Situation entschied ich mich für die Publikation
eines „Offenen Briefes“ in der Tageszeitung „Südostschweiz“ (SO). Die
Redaktion der SO nahm die Fragen zum Anlass, gleichzeitig einen eigenen redaktionellen Artikel zum Thema zu schreiben (erschienen am 22.08.2014).
Geschätzte Leserin, geschätzter
Leser, beurteilen Sie bitte selbst, ob meine Fragen an die Geschäftsleitung des
LEGR und an die Redaktion des „Bündner Schulblatts“ es rechtfertigen, jegliche
Antwort zu verweigern.
(Auszug: Die Fragen)
- Weshalb
begünstigen Sie durch Ihre Autorenwahl, eine Propagandaaktion zugunsten
der höchst umstrittenen
Mainstreampädagogik?
- Warum findet sich kein einziger kritischer
Beitrag zur Sicherstellung der Ausgewogenheit?
- Weiss
die Redaktion um die Tatsache, dass eine Fülle seriöser Autoren (auch
wissenschaftliche) zur Verfügung steht, welche die aktuellen pädagogischen
„Glaubensbekenntnisse“ widerlegen bzw. relativieren könnten?
- Sind Sie
sich der Tatsache bewusst, dass die Kompetenzorientierung eines neuen
Lehrplans nicht nur verzichtbar, sonder in wesentlichen Belangen von
Vorteil wäre?
- Sind Sie
sich Ihrer Pflicht bewusst, die Meinungsvielfalt und die Diskurse zu
zentralen pädagogischen und schulpolitischen Themen im Interesse der Sache
anzuregen?
- Sind Sie
sich bewusst, mit der aktuellen Publikationskultur das Vertrauen und die
Glaubwürdigkeit als Interessenvertretung von Schule und Lehrerschaft
nachhaltig zu beschädigen?
Ich hoffe nicht, dass der Vorstand „Lehrpersonen
Graubünden“ (LEGR) darauf stolz wäre, sich als fremd gesteuertes Instrument um
die geistige Ruhigstellung der von ihm vertretenen Lehrerschaft zu bemühen. (Ende Auszug)
Der Präsident verkündete denn auch
umgehend den Beschluss der Geschäftsleitung, auf die öffentlich gestellten Fragen
nicht einzugehen.
Der Verband ist aber daran zu erinnern, dass
er im Unterschied zu einem Jassclub mit in der öffentlichen Verantwortung steht.
Die Verweigerung einer Stellungnahme ist
darum nicht nur despektierlich gegenüber dem Fragensteller, sondern auch
Ausdruck der Geringschätzung der Öffentlichkeit.
Im abschliessenden Teil 3 berichte ich über Turbulenzen im “Wolkenkuckucksheim”.
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