Voraussetzungen für eine Lehre nicht mehr gegeben, Bild: picture alliance
Die Schule geschafft, aber der Arbeitswelt nicht gewachsen, Die Welt, 26.3. von Gerd Held
Auf den ersten Blick ist die Berufswelt in Deutschland so heil
wie lange nicht mehr. Es sind mehr Menschen in Arbeit und Brot als je zuvor.
Doch die Zukunft dieser heilen Welt ist auch so unsicher wie lange nicht mehr.
Vieles deutet darauf hin, dass eine gravierende Fachkräftelücke bevorsteht. Die
günstigen Arbeitsmarktzahlen wären also ein Übergangsphänomen: Eine starke
Nachfrage nach Arbeitskraft stößt "gerade noch" auf ein Angebot an
Arbeitskräften.
Aber schon jetzt hält dies Angebot nicht
mehr, was es verspricht. Viele Arbeitsverhältnisse werden nach kurzer Zeit
wieder aufgegeben. Die Arbeitswelt wird volatiler, die Berufstätigkeit bekommt
immer mehr Versuchscharakter. Man probiert es mal. Ein zunehmender Teil der
Schulabgänger bringt nicht mehr die Voraussetzungen mit, um eine Lehre zu
machen. 256.000 junge Leute mussten 2014 ein "Bildungsprogramm im
Übergangsbereich" absolvieren.
Auch bei vielen Schulabgängern, die ein
passables Zeugnis mitbrachten, stellte sich in den Betrieben heraus, dass sie
nicht fähig oder nicht bereit waren, sich den Vorgaben eines Produktionsablaufs
anzupassen. Ausbildungsleiter mit langjähriger Erfahrung berichten, dass es von
Jahr zu Jahr schlimmer wird. Dabei geht es nicht nur um ein
Unterschichtproblem, wie die hohe Zahl von Studienabbrechern an den Hochschulen
zeigt.
Auch die wachsende Zahl derer, die sich
selbstständig machen, sollte nicht zu optimistisch gesehen werden. Vielfach ist
hier der Zauber des Neugründens am Werk, der schnell verfliegt. So deutet sich
in der Fachkräftelücke eine tiefere Krise an: Gelingt es nicht mehr, jene
Berufskultur, die bisher die Qualität des "Made in Germany"
verbürgte, von Generation zu Generation zu vermitteln?
Keine festen Fachkenntnisse
mehr
Gewiss hat jeder Generationswechsel seine Reibungen und Brüche,
aber dagegen setzt normalerweise das Bildungswesen ein Gegengewicht. Die Schule
kann die Bestände an Wissen und Motivationen, von denen ein Land zehrt, im
Übergang von Generation zu Generation sichern. Wofür sonst ist sie eine
Hoheitsaufgabe des Staates? Angesichts der drohenden Fachkräftelücke müssten
sich also eigentlich alle Augen auf das Bildungswesen richten. Auch die
zahlreichen Veränderungen, die hier vorgenommen wurden, müssten noch einmal auf
den Prüfstand kommen.
Doch nichts dergleichen geschieht.
Stattdessen werden drei Gruppen als Lückenfüller ins Gespräch gebracht: Frauen,
Alte und Migranten sollen die Krise lösen. So als wären die bisherigen Träger
des Berufslebens in Deutschland durch irgendeine geheimnisvolle Krankheit
dahingerafft und müssten nun ersetzt werden. Man nimmt den Bruch am Übergang
ins Berufsleben hin, als wäre es irgendein Schicksal von höherer Hand.
Es ist kein Schicksal. Die Schüler, Lehrer
und Eltern sind heute nicht schlechter als früher. Geändert haben sich die
Schulen, wo massive Eingriffe in bewährte Standards stattgefunden haben. Am
folgenreichsten war wohl eine Umdefinition der Bildungsgüter: An die Stelle von
"totem" Wissen sollte die Vermittlung von sogenannten Kompetenzen treten.
Die Schüler sollten keine festen Fachkenntnisse mehr lernen, sondern Verfahren,
mit denen angeblich jede Aufgabe gelöst werden könnte – und das ein Leben lang,
denn mit ihnen sollte man auch alles zukünftig Neue erfassen können.
Ein großes Abrissprogramm
Eine Art Super-Können wurde in Aussicht gestellt, während
zugleich von "schülerzentrierten Sozialformen" die Rede war. Der
Schüler sollte der Souverän sein. Mit dem Wörtchen Kompetenz (sein
ursprünglicher Wortsinn meint nur die beamtenmäßige Zuständigkeit) wurde die
Utopie einer höheren Ebene in die Schulen importiert, auf der substanzielle
Bildungsbestände nicht mehr ausschlaggebend sind.
Damit begann ein Abrissprogramm, das sich
gegen alles richtete, was nun als "unnötige Härte" erschien: gegen
die Zwänge eines bestimmten Stoffes oder Fachgebiets, gegen das mühsame
Erarbeiten des Wortschatzes einer Sprache, der Gesetze und Gliederungen der
Natur, der Geografie eines Landes, der Eigenart einer Geschichtsepoche oder
eines literarischen Werks, gegen das Üben in Sport, Musik oder Kunst, gegen das
Auswendiglernen von Texten, sogar gegen die Beachtung von Grundregeln beim
Schreiben und Rechnen, gegen schriftliche Prüfungsarbeiten, Noten,
Sitzenbleiben, Jahrgangsklassen, Schulstufen. Alles steht zur Disposition.
Es ist klar, dass die Absolventen eines
solchen Schulsystems massive Probleme beim Übergang ins Berufsleben bekommen
müssen. Denn dort muss man mit festen, fachspezifischen Wissensbeständen
arbeiten. Vor allem muss man sie unmittelbar verfügbar haben. Ohne ein solches
inneres Eigentum funktioniert kein Beruf, weder Automontage noch Sekretariat
oder ärztliche Diagnose. Ohne ein solches human capital kann man auch kein
Klavierkonzert spielen und kein Fußballspiel bestreiten.
Zum Abitur per Powerpoint
Gewiss hat das Lernen an der Schule nicht den Sinn, ein
bestimmtes Berufswissen zu vermitteln. Aber es muss mit dem Aufbau des inneren
Eigentums beginnen. Es muss diesen Aufbau üben, auch wenn viele der ersten
Schätze später wieder verloren gehen. Wenn die Schule in diesem Sinn nicht mehr
baut, sondern nur noch betreut – mit Ratschlägen à la "Wie gehe ich damit
um?" – enteignet sie die Schüler. Eine ganze Generation landet im
Niemandsland.
Es ist daher falsch, die Fachkräftelücke
als Problem der Wirtschaft anzusehen. In Wirklichkeit ist es ein Alarmzeichen
für den Zustand des Bildungssystems. Es ist ja inzwischen mit Händen zu
greifen, wie die fachliche Entkernung des Schulwesens auf die Berufswelt
durchschlägt. Die Berufsanfänger scheitern exakt dort, wo es um feste Kenntnisse
und Ausdauer geht.
Doch die Schulbürokratien scheinen ihren
Kurs unbeirrt fortzusetzen. In Berlin und Brandenburg will man jetzt – quer
durch alle Schultypen – in der fünften und sechsten Jahrgangsstufe aus den
Fächern Geschichte, Geografie und Politische Bildung ein Mischfach
"Gesellschaftswissenschaften" machen.
Derweil soll in Niedersachsen im Rahmen
eines geplanten "modernen Abiturs" die Möglichkeit eingeführt werden,
die schriftliche Abiturprüfung durch eine sogenannte Präsentationsprüfung zu
ersetzen. Auf die Nachfrage, was das denn sei, plauderte die Kultusministerin
ganz locker, sie denke dabei an die Präsentation eines Themas mit dem
Computerprogramm Powerpoint.
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