Der Wettbewerb verlagert sich in den Kindergarten: Kinder dürfen immer
weniger spielen. Müssen immer früher schulisch lernen. Das sagt Carl Bossard,
der Gründungsrektor der PH Zug. Der gesellschaftliche Trend sei dramatisch. Der
Druck der Eltern nimmt zu. Aber ohne freies Spielen verbaut man den Kindern den
Weg zu selbständigem Denken. Bossard sagt im Interview, weshalb Gesellschaft
und Wissenschaft in völlig verschiedene Richtungen gehen.
Bossard: Frühförderhysterie bringt den Kindern gar nichts. Bild: zvg
Die leise Verschulung der Kindergärten, Zentral +, 22.2.
«Der Verlust der freien Spielzeit macht aus Kindern
eingetrichterte Puppen, die nicht lernen, selbständig zu denken.» Das sagt
einer, der sich sein ganzes Leben lang mit dem Lernen und der Bildung
beschäftigt hat. Dr. Carl Bossard hat als Gründungsrektor die PH Zug aufgebaut,
war lange Direktor der Kantonsschule Luzern, hat Reihen von Kantonsschülern und
Lehrern mitgeformt.
Und sagt: «Das freie
Spielen hat im vorschulischen Kinderalltag stark an Bedeutung verloren. Kita
und Kindergarten werden zunehmend als Orte zum Lernen und nicht zum Spielen
angesehen. Das Spielen gilt als unnütz, als trivial.» Die ganze Schulzeit ist
nach vorne verlegt worden, frühere Einschulung, früher in den Kindergarten,
früher schulisch lernen. «Das ungezwungene, zweckfreie und vom Kind initiierte
Spielen ist in Verruf geraten und damit gefährdet.»
Und das ist dramatisch, sagt Bossard. Denn die Forschung zeige,
dass genau das Gegenteil wichtig sei. Das Spielen sei der Königsweg des Denkens
und Problemlösens. «Kinder müssen spielen können, auch stundenlang mit
denselben Objekten. Man weiss aus der Forschung: Das fördert das kreative
Denken, das schafft die Grundlage für das selbständige Denken überhaupt.»
Bossard hat zum Thema im
Magazin Journal21 einen Essay verfasst. Gegenüber zentral+ gibt er Auskunft
darüber, weshalb der Verlust der Spielzeit im Vorschulalter für die Kinder
einschneidend ist. Und weshalb die Gesellschaft gegen besseres Wissen trotzdem
immer früher schulisch unterrichten will.
zentral+: Wie haben Sie festgestellt, dass die Kinder in Kita und
Kindergarten nicht mehr frei spielen dürfen?
Carl Bossard: In den letzten 20 Jahren ist die freie Spielzeit im vorschulischen
Kinderalltag um einen Drittel geschrumpft. Das ist ein Fakt. Ich treffe Eltern
und Kinder, studiere Lehrpläne und lese wissenschaftliche Studien. Das sind
Beobachtungen, Aussagen von Kindergärtnerinnen und Eltern sowie Erkenntnisse
von Forscherinnen. Wenn zum Beispiel die Tatsache, dasss ein Kindergärtner über
längere Zeit am Gleichen spielt, als irritierend empfunden wird und allenfalls
sogar als therapiewürdig, dann stimmt das nachdenklich. Dabei machen Kinder
genau das, sie können stundenlang verweilen. Zweckfrei. Ohne einen Gegenstand
wegzulegen. Das Denken ist ein Abkömmling des Tuns. Kinder lernen ganz viel
über dieses freie Tun, sie kombinieren den Gegenstand neu, interpretieren ihn
neu, das ist ein kreatives Kennenlernen. Das hat immer weniger Platz.
zentral+: Was ist in Kita und Kindergarten an die Stelle der freien
Spielzeit getreten?
Bossard: Gezielte Arbeitsblätter, Aufgaben, die dem Kind «spielerisch»
erste Mathematik- oder auch Fremdsprachenkenntnisse beibringen. Das Kind soll
möglichst früh all die Fähigkeiten lernen, die Erwachsene können. Von Eltern
kennt man diesen Druck: Ihre Kinder sollen möglichst früh einen
Wissensvorsprung vor anderen Kindern haben und einmal eine möglichst hohe
soziale Stellung erreichen. Abbild dieser Haltung ist der verstärkte Run aufs
Gymnasium. Der Trend ist klar: Beschleunigen, früher einschulen. Das
schulähnliche Lernen in den Kindergärten nimmt zu, sagt die Bildungsforscherin
Margrit Stamm, Direktorin des Forschungsinstituts Swiss Education in Bern. Das
zeigen verschiedene Studien, etwa die PRINZ-Studie (2014) oder die FRANZ-Studie
(2012) «Früher an die Bildung – erfolgreicher in die Zukunft?».
zentral+: Woher kommt dieser Druck?
Bossard: Da ist einerseits der pathologische
Selbstzwang, dem sich unsere Gesellschaft in Teilen unterstellt, nämlich alles
zu ökonomisieren, alles dem Effizienzgebot zu unterstellen, beinahe alle
Lebensbereiche – von der Arbeit über die Wissenschaft bis zur Schule – dem
Diktat «Leistung in der Zeiteinheit» unterzuordnen. Das verdrängt die Musse.
Dazu kommt die Angst vor dem sozialen Abstieg. Die Angst der
erodierenden Mittelschicht. Heinz Bude schrieb ein kluges Buch über die
Gesellschaft der Angst: Wir verteilen immer mehr Diplome, dadurch verliert die
eigene Bildung an Wert. Deshalb verlagert sich der Wettbewerb schon in die
Kindheit. Kinder müssen früh Fremdsprachen lernen – Englisch mit drei Jahren
ist keine Ausnahme. Sie sollen schon im Kindergarten Wissen anhäufen. Sie
müssen früher das können, was sie vorher erst in der Primarschule können
mussten. Es hat sich einfach alles fast zwei Jahre früher in die Kindheit
verlagert, auch durch HarmoS: Wo früher die Kinder zum Teil mit fünf oder sechs
in den Kindergarten gingen, gehen sie heute mit vier.
zentral+: Was ist daran schlecht?
Bossard: Die Wissenschaft zeigt einen ganz anderen Weg auf: Margrit Stamm
hat nachgewiesen, wie wichtig das freie Spiel ist, wie bedeutsam das Erlebnis,
das vordergründig Unnütze ist. Das freie Spiel als Vorläufer des Denkens
fördert die Intelligenz, stimuliert die Kreativität und die
Problemlösefähigkeit. Das sind Grundfertigkeiten, die die Kinder später
brauchen. Die spielerisch frühe Förderung ist die effektivste Lernform und der
bedeutendste Entwicklungsmotor. Diese Entwicklung lässt sich schlicht
nicht beschleunigen. Eine grosse Neuseeländische Studie hat gezeigt, dass
Kinder, die entweder mit fünf oder mit sieben Jahren lesen lernten, spätestens
mit neun Jahren gleich gut lesen. Mit zwölf kehrt sich das Verhältnis um:
Diejenigen lesen jetzt besser, die es später gelernt haben.
zentral+: Aber dieser grosse Wunsch der Eltern, in ihren Kindern durch frühe
Förderung ein ungeahntes Potential zu entfalten, ist der nicht berechtigt?
Bossard: Dieser Wunsch ist verständlich und nachvollziehbar. Doch die
Wissenschaft spricht eine andere Sprache. Die in Mittel- und
Oberschichtfamilien verbreitete Frühförderhysterie bringt den Kindern gar
nichts. Die leider auch von «verantwortungslosen» Forschern verbreitete Angst,
es würden sich früh sogenannte Lernfenster schliessen, erwies sich als
grundlos. Darauf weist die ETHZ-Forscherin Elsbeth Stern hin und betont, dass
stattdessen mangelnde Fürsorge sich fatal auswirken könne. Das sagen im Übrigen
alle Hirnforscher, unter anderen auch der Neurobiologe Prof. Gerhard Roth und
der renommierte Kinderarzt Prof. Manfred Cierpka aus Heidelberg – dies aufgrund
umfangreicher Forschungen. Alle betonen: Auch im Kleinkindalter ist kein
spezielles Intelligenztraining vonnöten. Emotional dem Kind zugewandte Eltern,
die mit ihm spielerisch die Welt erkunden und anregen, reichen aus. In der
Gärtnersprache ausgedrückt: Der Rasen wächst nicht schneller, wenn man daran
zupft. Der Verlust der freien Spielzeit aber macht aus Kindern eingetrichterte
Puppen, die nicht lernen, selbständig zu denken.
zentral+: Wie kommt dann der Trend zum schulischen Lernen in die
Kindergärten? Über Lehrpläne?
Bossard: Die gesellschaftliche Debatte dreht sich heute vor allem um
Frühförderung und frühe Einschulung. Das verdrängt die Zeit für das freie
Spiel. HarmoS hat den Schuleintritt nach unten gedrückt. Dadurch werden Kita
und Kindergarten vermehrt zu Lernorten. Kindergärtnerinnen sehen sich so
zunehmend dem Druck ausgesetzt, mit den Kindern «etwas Lehrreiches und
Ernsthaftes» zu tun. Es muss allen bewusst sein: Der Kindergarten ist keine
Frühschule. Es kann im Kindergarten nicht darum gehen, den Kindern
lektionsmässig Kompetenzen einzutrichtern.
zentral+: Sondern?
Bossard: Das Kind hat eine natürliche Neugier, eine curiositée
intellectuelle. Es soll seinen Forscherdrang beibehalten. Die Lust, etwas zu
tun. Das ist die Aufgabe im Kindergarten. Es braucht viel Fantasie und
Kreativität, solche Erlebnisse zu gestalten. Mit den Kindern so zu arbeiten.
zentral+: Sie bilden ja als Lehrer an der PHZ solche Lehrpersonen aus. Wird
darauf zu wenig Wert gelegt?
Bossard: Wir haben Dozierende mit langjähriger Erfahrung auf der KiGa-Stufe
die den Trend erkannt haben. Doch es braucht auf jeden Fall dieses Bewusstsein
unter den Kindergärtnerinnen: Der Kindergarten ist keine Frühschule.
zentral+: Sie schreiben in Ihrem Essay, die Wirtschaft habe diese Verfrühung
des schulischen Lernens über HarmoS bewusst gefordert. Aber ist es denn
wirklich das, was die Wirtschaft tatsächlich braucht?
Bossard: Was braucht die Wirtschaft? Die Wirtschaft braucht Menschen, die
kreativ und selbständig denken können. Das braucht sie. Keine abgerichteten
Leute, nicht solche, die möglichst viele Dinge auswendig gelernt haben.
zentral+: Also ist das Ganze ein Missverständnis? Die Eltern machen dem Kind
Druck, weil sie denken, dadurch die Chancen des Kindes zu erhöhen. Stattdessen
verschlechtert der Druck die Chancen der Kinder, in der Wirtschaft und
Gesellschaft wirksame und zukunftsweisende Positionen einzunehmen.
Bossard: Vielleicht ist es tatsächlich ein Missverständnis. Auf jeden Fall
nimmt das schulähnliche, didaktisch-instruierende Lernen im Kindergarten zu.
Und das, obwohl die Wissenschaft ganz klar aufzeigt, dass spielerisches Lernen
erfolgversprechender ist.
zentral+: Ist das nicht schlicht Nostalgie? Früher waren die Kindergärten ja
so – die Spielzeit war wichtiger.
Bossard: Es ist keine Nostalgie. Es ist ein Rückkommen auf etwas, das man
verloren hatte. Es ist eine Renaissance des freien Spielens, die die Forschung
aufzeigt. Gute frühe Förderung lässt Kinder auf spielerische und ihnen eigene
Art das lernen, was im Bereich des Möglichen liegt. In der Gesellschaft ist das
noch zu wenig angekommen.
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