Nun mischt sich auch Benedikt Weibel (ex CEO SBB) unter die illustre Schar der Kritiker des Lehrplans 21. Weibel müht sich ab mit der abgehobenen Expertensprache und wundert sich über die Geringschätzung des Wissens, die mit dem Lehrplan 21 einhergeht.
Weibel staunt immer wieder über eklatante Wissenslücken seiner Studenten, Bild: Jungfrauzeitung
Bildungspolitik auf Abwegen, Schweiz am Sonntag, 19.10. von Benedikt Weibel
Die Nachricht: Im Zentrum des neuen Lehrplans 21, der 550 Seiten umfasst, steht
der Erwerb von Kompetenzen. An Bedeutung verlieren soll hingegen das reine
Wissen, das im Zeitalter der Smartphones jederzeit online abgerufen werden
könne. Diese Neuorientierung hat zu Kontroversen geführt. Der Widerstand in den
Kantonen wächst. Mit der Aktion «550 gegen 550» wenden sich auch Lehrkräfte
gegen die Neuausrichtung der Bildungspolitik. Zurzeit wird der Lehrplan 21
überarbeitet.
Der Kommentar: Wer die Debatte verfolgt, dem fallen zwei Dinge auf:
erstens die Geringschätzung von Wissen und zweitens die Hochstilisierung von
Kompetenzen, obwohl dieser Begriff eine maximale Unschärfe aufweist. Bereits in
den Zeiten der Aufklärung wurde «Wissen ist Macht» zum geflügelten Wort. Heute wird
unsere Welt als Wissensgesellschaft bezeichnet.
Wissen ist eine der wichtigsten strategischen Ressourcen, hört und liest man
immer wieder. Der Titel eines Interviews mit dem bekannten Physikprofessor Ben
Moore bringt es auf den Punkt: «Wissen ist das stärkste Werkzeug, das wir zur
Verfügung haben.» Weil Wissen so entscheidend ist, ist eine gute Ausbildung ein
Schlüsselfaktor für die Bewältigung der Zukunft. So weit scheinen sich alle
einig zu sein.
Mit Verwunderung stellt man fest, dass diese Erkenntnis am Lehrplan 21
vollständig vorbeigegangen ist. Im Einführungskapitel über die Bildungsziele
wird «Wissen» mit keinem Wort erwähnt. Dafür wird das Wort «Kompetenz» nicht
weniger als neun Mal bemüht. Das mag daran liegen, dass in unseren
Bildungsanstalten der reine Wissenserwerb bereits heute hier und dort als
überflüssig angesehen wird.
Seit nunmehr 16 Semestern unterrichte ich an der Universität Bern Studierende
im Masterstudium für Betriebswirtschaft. Immer wieder staune ich über eklatante
Wissenslücken. Sollte man von einem Bachelor in BWL nicht erwarten können, dass
sie oder er wissen, was in OR 716 steht, was ein Businessplan ist, welche
Marketinginstrumente zur Verfügung stehen, was die Kernelemente einer Strategie
sind?
Unsere obersten Pädagogen sind offenbar anderer Ansicht. Wissen spielt ihrer
Meinung nach in der Wissensgesellschaft eine untergeordnete Rolle, schliesslich
kann man jederzeit Wikipedia anrufen. Ihr Credo ist: Die Schule darf keine
Wissensfabrik sein. Die Schule der Zukunft soll Kompetenzen vermitteln.
Kompetenz ist ein hoch abstrakter Begriff. Es fällt auf, dass viele namhafte
Wissenschafter die Meinung vertreten, es gäbe gar keine allgemein anerkannte
Definition dafür. Und einige lehnen den Begriff überhaupt ab. Die Autoren des Lehrplans
21 stützen sich auf eine im Auftrag der OECD entwickelte Definition des
deutschen Psychologen Franz E. Weinert.
Danach ist eine Kompetenz «die bei einem Individuum verfügbaren oder durch sie
erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu
lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen
Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen
erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können.» Alles klar? Nein, aber es
gibt ja Wikipedia: volitional heisst «durch den Willen bestimmt». Selbst mit
dieser Präzisierung blicken wir perplex auf dieses Ungetüm einer Definition.
Das also soll das oberste Ziel der künftigen Bildungspolitik sein?
Bleibt die Hoffnung, dass die Dinge anhand eines praktischen Beispiels
verständlicher werden. Man hört ja immer wieder, dass der Analphabetismus
zunehme. Lesen und Schreiben können ist unbestreitbar wichtig. Dazu der
Lehrplan 21: Beim Thema «Lesen» soll folgende Kompetenz erworben werden: «Die
Schülerinnen und Schüler können ihr Leseverhalten und ihr Leseinteresse
reflektieren. Sie können so das Lesen als ästhetisch-literarische Bereicherung
erfahren.»
Ich muss zugeben, dass ich da nicht mehr folgen kann. Aber wahrscheinlich fehlt
mir ganz einfach die Kompetenz, um die moderne Pädagogik zu verstehen.
Der Protest von Lehrpersonen hat immerhin dazu geführt, dass man den Lehrplan
21 überarbeitet. Es ist nur zu befürchten, dass diese Übung eine unumstössliche
Lebensweisheit bestätigt: Wenn du das Hemd unten falsch geknöpft hast, ist es
auch oben falsch geknöpft.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen