Michael Felten arbeitet als Gymnasiallehrer, Schulentwicklungsberater und pädagogischer Publizist, Bild: stimmt.de
Lob der Klasse, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9.10.
Die strukturierte Wissenserarbeitung mit dem ganzen, mehr oder weniger
heterogenen “Haufen” von Schülern scheint seit längerem überholt, der lenkende
Lehrer muss sich zunehmend rechtfertigen. Unter dem Schmähbegriff
Frontalunterricht wird diese Unterrichtsform als Ursache aller
Schülerpassivität und Lernineffizienz attackiert. Der Begriff ist geschickt
gewählt, assoziiert man unwillkürlich Phänomene wie Frontalangriff (auf junge
Menschen), Konfrontation (der Interessen), Kriegsfronten (zwischen den
Generationen). Und wenn die taz von “Frontalbeladung” spricht, suggeriert das
ein höchst antiquiertes Verhaftetsein an Paukvorstellungen à la Nürnberger
Trichter – wer wollte sich derlei schon auf die eigene Fahne schreiben?
Der neuseeländische Forscher John Hattie hat für seine Studie “visible
learning” über 50 000 Studien gesammelt und darin die Wirkung von 134
Einflussgrößen auf den Unterrichtserfolg untersucht. Sein Visionäre
beunruhigender, Praktiker aber nicht wirklich überraschender Befund: Im
Vergleich zur einer durchschnittlichen Lernprogression (Effektstärke 0,4)
erzielen Unterrichtsverfahren wie direkte Instruktion (0,59) oder
Klassendiskussionen (0,82) attraktiv hohe Werte, während Individualisierung
(0,21) oder Freiarbeit (0,04) höchst bescheiden abschneiden. Im Schülerslang
würde man sagen: “Ist ja der Hammer!”
Der Erziehungswissenschaftler Ewald Terhart drückt sich nüchterner aus:
Durch das aktive, herausfordernde Lehrerbild „rehabilitiert Hattie den
dominanten, redenden Lehrer – der aber auch genau weiß, wann er zurücktreten
und schweigen muss. Die Perspektive auf den Unterricht ist lehrerzentriert.“ Im
Mittelpunkt steht ein Lehrer, für den zugleich seine Schüler im Zentrum stehen.
Zwar gibt es gute Gründe, den Kennziffern empirischer Bildungsforschung nicht
allein zu trauen. Trotzdem wirken die jüngsten Bildungspläne vieler
Kultusministerien im Licht der Hattie-Befunde reichlich überholt. Sie sind
geprägt von Selbstlerneuphorie, Individualisierungswahn und einer tiefen
Abneigung gegenüber dem Unterricht im Klassenverband.
Nicht nur empirische Bildungsforscher, sondern auch moderne
Kognitionspsychologen wie Elsbeth Stern sehen den Lehrer keineswegs im Abseits,
sondern fordern sein Lenkungshandeln geradezu heraus. Praktisch nutzbares
Wissen wie automatisierte Handlungen entwickelt sich vor allem durch
Wiederholung, Erfolg, Steuerung und Fehlerkorrektur. Ohne den Wissensträger in
der Rolle des Lehrers ist das nur schwer denkbar.
Manche Unterrichtsstunde in Deutschland mag monoton verlaufen, als zu
enges Frage-Antwort-Spiel, mit zu geringem Bezug auf unterschiedliche
Ausgangslagen der Schüler. Aber was ist mit Motivationsverlust und Mitläufertum
bei unstrukturierter Gruppenarbeit, was mit der Überforderung und
Oberflächlichkeit verfrühten oder übertriebenen Selbstlernens? Schlechter
Frontalunterricht ist gerade kein prinzipielles Argument gegen das Lehren und
Lernen im Klassenverband, sondern höchstens eines für dessen Verbesserung.
Direkte Instruktion durch den Lehrer meint gerade keinen nervtötenden
Paukermonolog, sondern den dynamischen Wechsel von Anknüpfen an Bekanntem,
gemeinsamem Erschließen und individuellem Erproben von Neuem, Austausch im
Plenum, sowie abschließendem Training in Eigenregie oder in Kleingruppen.
Gewiss bleibt Selbständigkeit ein unumstrittenes Ziel aller Bildung –
sie ist nur kein Königsweg dahin. Eigenverantwortlichkeit beim Lernen zahlt
sich nach aller Erfahrung erst in höheren Semestern, bei Leistungsstärkeren,
nach gründlicher Anleitung und in angemessener Dosierung aus. Dagegen brauchen
Schulanfänger, lernunlustige Pubertierende und bildungsfern Sozialisierte zur
optimalen Ausschöpfung ihrer Begabung eine Person, die motiviert und erklärt,
fordert und unterstützt. Wenn Schüler – vor allem Schwächere – sich häufig
“Frontalunterricht” wünschen, dann meinen sie das direkt angeleitete,
übersichtliche Vorgehen des Lehrers, ohne Umwege, ohne unergiebige
Methodenwechsel, mit vielen Fragephasen und Ergebniskontrollen.
Solch ein Klassenunterricht ist auf Lehrerseite weitaus anspruchsvoller
als das Austeilen und Nachsehen von Arbeitsblättern und Wochenplänen. “Der
Mensch ist für andere Menschen die Motivationsdroge Nummer eins”, urteilt der
Freiburger Psychosomatiker Joachim Bauer. Gute Lehrer müssen weitaus mehr sein
als Servicepersonal für zufällige Lernbedürfnisse, sie sind Führungskräfte in
komplexen Entwicklungsprozessen, beim Erwachsenwerden. Am Ende des Schultages
haben sie sich verausgabt, können aber auch zufrieden sein – denn sie ernten
nicht nur niveauvolle Lernergebnisse: Schüler mögen eben keine blassen
Lernbegleiter, sie fasziniert die mitreißende Leitfigur – und das lassen sie
ihre Lehrer auch spüren.
“Gib Kindern (und Jugendlichen) eine Hütte, und sie machen Kleinholz daraus.
Gib ihnen Holz, und sie bauen … eine Hütte” – so das idyllische Bild vom
Selbstlernen, das jüngst ein Religionspädagoge entworfen hat. Aber ist nicht
wahrscheinlicher, dass sich insbesondere Jungen statt der Hütte Schwerter und
Schilde anfertigen und sich in Kämpfe verstricken statt in Denkprozesse? Ein
anderes romantisches Bild, dieses Mal aus dem 18. Jahrhundert: “Die Kirsche,
die das Kind selbst bricht, schmeckt ihm süßer als eine andere, die man ihm in
den Mund steckte, und die Beobachtung, die es selbst gemacht, die Wahrheiten,
die es selbst herausgebracht, die Kenntnisse, die es selbst erworben hat,
machen ihm weit mehr Freude, als diejenigen, die ihm eingeflößt werden”. Was
aber, wenn man in der Pubertät “kein’ Bock” auf “Kirschen” hat, etwa auf binomische
Formeln oder Gedichtgehalte, diese indes auf spätere Weichenstellungen des
Lebens vorbereiten?
Angesichts der Fülle von Halbwahrheiten und Verdrehungen über die Arbeit
der Lehrer war es wohltuend, dass kürzlich die gewiss nicht reformskeptische
Zeitschrift “Pädagogik” dem lehrergeleiteten Unterricht ein Themenheft widmete.
Darin formuliert der Pädagoge Jochen Grell, Autor des Longsellers
“Unterrichtsrezepte”, der den deutschen Begriff “direkter Unterricht”
einführte, eine “gedruckte Erlaubnis”: “Du darfst direkt unterrichten, auch die
ganze Klasse auf einmal. Du brauchst dich nicht dafür zu schämen, dass du
Schüler belehren willst. Die Schule ist ja erfunden worden, damit man nicht
jedes Kind einzeln unterrichten muss.”
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