2. Oktober 2014

Lehrplan 21 vors Volk

Der Lehrplan 21 darf die politische Arena nicht scheuen, findet Erich Aschwanden in seinem Kommentar.
Quelle: NZZ, 2.10. von Erich Aschwanden


Die provokative Frage «Wie viel Politik erträgt die Schule?» stand 2009 im Mittelpunkt der Delegiertenversammlung des Dachverbands der Schweizer Lehrerinnen und Lehrer (LCH). Die Diskussion war geprägt durch einige verlorene Volksabstimmungen. Mehrere Kantone aus der Zentral- und Ostschweiz hatten es abgelehnt, der interkantonalen Vereinbarung über die Harmonisierung der obligatorischen Schule, kurz Harmos, beizutreten. Damals beklagten verschiedene Tagungsteilnehmer, in den letzten Jahren sei zu wenig gründlich über Schule und Bildung diskutiert worden. Es brauche die Einführung einer «Landsgemeindedemokratie», wurde im Rahmen einer Podiumsdiskussion verlangt. So könne verhindert werden, dass Projekte wie Harmos und der Lehrplan 21 zum Scheitern verurteilt wären.
Bildungsfragen bewegen
Fünf Jahre später wird wohl niemand ernsthaft behaupten, Schul- und Bildungsfragen würden von Politik und Öffentlichkeit als Quantité négligeable behandelt. Die Frage, welche Fremdsprachen in den öffentlichen Schulen gelehrt werden sollen und in welcher Reihenfolge, droht zu einer ernsthaften Belastung für den eidgenössischen Zusammenhalt zu werden. Der von den Parlamenten angestrebte Beitritt zum Harmos-Konkordat wurde in sechs Kantonen vom Volk verworfen und in Obwalden vom Kantonsrat sistiert. In diversen Kantonen konfrontierte die SVP beziehungsweise ihre Jungpartei die Stimmberechtigten an der Urne mit der Frage, ob im Kindergarten nur noch in Mundart unterrichtet werden darf.
Bereits zeichnet sich die nächste Schlacht auf dem bildungspolitischen Terrain ab. Casus Belli ist der Lehrplan 21. Mit diesem Projekt sollen die Ziele festgelegt werden für den Unterricht aller Stufen der Volksschule. Das umfangreiche Werk soll das wichtigste Planungsinstrument für Lehrpersonen, Schulen und Bildungsbehörden werden. Schon bevor der Lehrplan 21 Ende Oktober von den Erziehungsdirektoren der Deutschschweiz definitiv verabschiedet wird, steht das Harmonisierungsvorhaben im Gegenwind unterschiedlichster Gruppierungen und Interessenvertreter.
Skepsis wurde zunächst in verschiedenen Kantonsparlamenten laut. Eine weit über die SVP hinausgehende Gegnerschaft ist bemüht, die Einführung des Lehrplans 21 von einer Sache der Bildungspolitiker zu einer Angelegenheit des Volkes zu machen. Bisher fanden diese Versuche, das Volk oder wenigstens die Volksvertreter in den Kantonsräten in dieser Sache urteilen zu lassen, kaum Anklang bei den Entscheidungsträgern. Doch die Diskussion ist damit keineswegs abgeschlossen. Inzwischen wurden bereits in mehreren Kantonen Volksinitiativen lanciert oder zumindest angekündigt. Es ist mehr als wahrscheinlich, dass an verschiedenen Orten die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger das letzte Wort haben werden.
Für dieses Szenario spricht, dass auch an der Basis eine nicht zu unterschätzende Unruhe festzustellen ist. Unabhängig von den politischen Parteien formiert sich eine bunt gemischte Opposition, die von besorgten Eltern bis zu weltverschwörerisch geprägten Gruppierungen reicht. Nicht gerade förderlich für eine reibungslose Inkraftsetzung ist auch, dass inzwischen der Lehrerdachverband der Einführung des Lehrplans 21 nur zustimmen will, wenn in den Klassenzimmern genügend zeitliche und finanzielle Ressourcen vorhanden sind. Das ist keine einfach zu erfüllende Forderung angesichts der zahlreichen Sparpakete, die nicht zuletzt Einschnitte im Bildungswesen zur Folge haben. Skeptisch reagieren teilweise auch wirtschaftsnahe Stimmen, denen die wettbewerbskritische Ausrichtung des Lehrplans 21 missfällt.
Vertrauen schaffen
Die Erziehungsdirektoren der 21 beteiligten Kantone tun gut daran, diese breite Palette von Bedenken bei der Überarbeitung des Projekts in Betracht zu ziehen. Vor allem aber ist es notwendig, eine breite und sachliche Diskussion in der politischen Arena zu führen, sobald der Lehrplan 21 definitiv vorliegt. Bisher war die Ausarbeitung des grössten bildungspolitischen Vorhabens seit Bestehen des Bundesstaates, wie es etwas hochtrabend schon genannt wurde, fast ausschliesslich eine Sache von und für Experten. Die Politik muss sich auf die geforderte «Landsgemeindedemokratie» einlassen, um einen Flickenteppich wie bei Harmos zu verhindern.

Es gilt das Vertrauen zu schaffen, das im Schulwesen angesichts zahlreicher Reformen in den letzten Jahren gelitten hat. Nur ein breit abgestützter und akzeptierter Lehrplan 21 kann die ihn gesetzten, hohen Erwartungen erfüllen.

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