4. Oktober 2014

"Kritik an Kompetenzorientierung ist nicht konservativ"

"Eine Streitschrift", nennt Konrad Paul Liessmann sein Buch "Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung". Der 61-Jährige österreichische Wissenschafter des Jahres 2006 sieht sich aber trotz seines Widerstandes gegen die kompetenzorientierte Schule nach wie vor als Linken. 




Liessmann: Es beginnt zu knirschen zwischen den Lehrplanschreibern und den Praktikern, Bild: Erol Gurian

"Gestohlene Lebenszeit", Weltwoche 40/2014 von Markus Schär



Herr Liessmann, Sie schreiben: «Die Schweiz ist in der glücklichen Lage, ein ­einigermassen bewährtes und auch einigermassen erfolgreiches Bildungssystem zu haben.»
Genau.
Danke für die Blumen. Schweizer Bildungsexperten sehen unsere Schulen viel kritischer.
Darüber wundere ich mich manchmal. In Deutschland und Österreich fordern die Experten Reformen, weil wir bei den Pisa-Tests so schlecht abschneiden. Das trifft für die Schweiz eher nicht zu. Und in Österreich läuft eine heftige Debatte: Wo stehen unsere Hochschulen? In den Rankings finden wir sie auf Platz 175 oder 220 oder weiss Gott wo. Die kleine Schweiz hat aber zwei weltberühmte Hochschulen. Da fragt man sich doch: Warum glaubt ein Land, das sich so auszeichnet, teure und problematische Bildungsreformen durchführen zu müssen? Nur weil es gerade Mode ist?
Es gibt für Sie «keinen Vorwand für ­Reformbedürftigkeit» – bei uns laufen aber seit zwanzig Jahren ständig Reformen. ­Woher kommt dieser Furor?
Das ist mir ein Rätsel. Einerseits gehören Bildungseinrichtungen ja zu jenen In­stitutionen, die ihren Zweck umso besser erfüllen, je stabiler sie sind. Anderseits kämpft jedes Bildungssystem mit dem Vorwurf, es könne sich nicht an veränderte Bedingungen anpassen. Daraus ergibt sich der Gedanke, dass Bildung stets zusammenfällt mit ihrer Reform.
Wo begegnet Ihnen dieser Gedanke?
In Debatten höre ich Sätze wie: «Es ist unerträglich, dass wir immer noch ein Bildungssystem haben, das aus dem 19. Jahrhundert stammt.» Da frage ich zurück: «Leben wir in unterschiedlichen Welten? Seit Jahrzehnten stossen wir jedes Jahr eine Reform an. Wie kommen Sie nur auf Ihre Idee?» Die Antwort – in Österreich – ist: «Wir haben immer noch die 50-Minuten-Stunde.» Dass man an diesem Takt festhält, weil er sich bewährt hat, kommt niemandem mehr in den Sinn. Alles, was länger als zwei Jahre währt, steht im Bildungssystem unter Verdacht.
Für Reformen spricht, dass seit zwanzig Jahren die Globalisierung den Wettbewerb massiv verschärft. Da schreckt uns der Gedanke auf: «Achtung, unser Bildungssystem genügt nicht mehr!»
Alle argumentieren so, aber sie konstruieren dabei auch falsche Zusammenhänge. Die Schweiz ist ein interessantes Beispiel: Sie ist eines der wirtschaftlich erfolgreichsten Länder – dabei entspricht ihr Bildungssystem mit dem differenzierten Schulsystem, der ­dualen Berufsbildung, der niedrigen Maturanden- und Akademikerquote überhaupt nicht den Kriterien, die gemäss OECD zum Erfolg führen. Es gibt also eine Ideologie, dass wir unser Bildungssystem aufgrund des verschärften Wettbewerbs umbauen müssen. Aber sogar empirische Bildungsforscher überprüfen diese Ideologie nicht. Sie sehen deshalb auch nicht, dass ein stabiles Bildungssystem, in dem Kinder, Jugendliche und Eltern wissen, was sie zu erwarten ­haben, ein Wettbewerbsvorteil sein könnte.
Heute stehen wir bei Pisa nicht schlecht da. Aber bei der ersten Studie schockte uns der Vergleich, als wir sahen, dass die Finnen und die Südkoreaner viel mehr erreichen.
Es war anfangs vielleicht ein heilsamer Schock, dass wir uns mit anderen verglichen. Ich bleibe aber Skeptiker, was Pisa betrifft, dies aus zwei Gründen. Einerseits vertritt ­Pisa einen extrem verengten Bildungsbegriff; es werden nur drei Dimensionen getestet, und dies auf eine Weise, die unserer mitteleuropäischen Wissens- und Prüfungskultur nicht entspricht. Das führte anfangs zu Verzerrungen, vor Pisa kannten wir Multiple-Choice-Tests kaum. Wer nun lernt, damit umzugehen, schneidet besser ab. Pisa testet also, wie gut sich Länder auf Pisa-Test­fragen einstellen, sonst gar nichts. Anderseits müssen Sie sehen, was der Schweizer Ökonom Mathias Binswanger in einem lesenswerten Buch über «sinnlose Wettbewerbe» zeigt: ­Stehen die Absolventen eines Schweizer Gymnasiums im Wettbewerb mit den Absolventen einer lappländischen Gesamtschule? Natürlich nicht, die Pisa-Tests erzeugen also eine ­völlig unnötige Panik und Hektik.
Seit Jahrzehnten beklagen Gesellschafts­kritiker die Ökonomisierung aller Lebens­bereiche. Aber letztlich geht es doch um die einfache – ökonomische – Frage: Was schaut bei den Mitteln, die wir reinstecken, an Ertrag raus? Was soll an dieser Frage unsittlich sein?
An der Frage gar nichts. Unsittlich ist, wie wir den Ertrag definieren. Darüber herrscht ja keine Einigkeit. Unsittlich und darüber hinaus dumm ist es, zu sagen, der Ertrag einer Schule lasse sich mit ihrem Abschneiden bei Pisa-Tests messen. Und es ist unsittlich und nicht weniger dumm, wenn wir zu wissen glauben, was wir in Zukunft brauchen.
Was muss denn für Sie in der Schule als Ertrag herausschauen?
In der Grundschule ist das Beherrschen der Kulturtechniken unerlässlich. Die Kinder müssen also lesen, schreiben und rechnen können und Basiswissen gewinnen. Eine Schule versagt nicht, wenn sie keine Kurse für den Umgang mit Computern oder Smartphones anbietet. Das lernen die Schüler ohnehin selber. Wir führten ja in den fünfziger Jahren auch kein Schulfach «Fernsehen» ein, als der Fernseher aufkam. Darüber hinaus glaube ich schon, dass die Schule die wesentlichen Grundlagen unserer Kultur vermitteln sollte. Ein junger Mensch muss lernen, wie man wissenschaftliche Erkenntnisse erarbeitet und umsetzt; er sollte wissen, wie Gesellschaften und politische Systeme funktionieren; und er sollte auch kennen, was ­früher altertümelnd «Kulturgüter» hiess. Kultur besteht zum grossen Teil aus ihrer Geschichte, und die Kenntnisse dieser Geschichte muss die Schule vermitteln.
Sie können an der Uni nicht einmal mehr Grundkenntnisse der Bibel voraussetzen.
So ist es, ja. Die Bibel war über Jahrhunderte die Grundlage des gemeinsamen Wissens. Natürlich hat sie nicht mehr den Stellenwert wie in einem Haushalt des 18. Jahrhunderts, wo sie oft das einzige Buch war. Aber Sie ­können in kein Museum gehen ohne Kenntnisse der Bibel – Sie verstehen gar nicht, was diese Bilder zeigen.
Es ist eine der Haupttätigkeiten von Lehrern, Leistungen zu messen. Aber sie wehren sich erbittert dagegen, die eigenen Leistungen messen zu lassen.
Das gilt für andere Berufe ebenso. Sie gehen auch nicht zum Arzt und sagen, nachdem er Ihnen den Blutdruck gemessen hat: «Jetzt schauen wir mal, wie es bei Ihnen aussieht.» Auch die Bildungsforscher, die so gerne messen, lassen sich nur ungern selbst messen und bewerten – womöglich käme heraus, dass man ihre Stellen auch einsparen kann.
«What gets measured gets done», heisst die wichtigste Management-Maxime.›››
Nein, das Messen ist – zumindest im Bildungsbereich – nicht so wichtig, wie es die Ideologie des Testens nahelegt. Es ist zwar eine klassische Aufgabe von Lehrern, Leistungen von Schülern zu beurteilen und ­ihnen eine Rückmeldung zu ihrem Leistungsverhalten zu geben. Aber wie wollen Sie die Leistung des Lehrers messen? An der Anzahl Leute, die er zu einem Abschluss bringt? Wir kennen die Evaluationen an Hochschulen, aufgrund deren das Einkommen der Dozenten an die Leistungen der Studenten gekoppelt wird: Da werden die Studenten automatisch besser. Selbstverständlich soll man diskutieren: Was ist ein guter Lehrer? Aber es geht um qualitative Fragen: Was können wir von einer Lehrperson an fachlichen Kenntnissen, an didaktischen Fertigkeiten, an sozialer Sensibilität erwarten? Allerdings ist es selbst in grossen Metastudien nie gelungen, einen wirklich verbindlichen Krite­rienkatalog für einen guten Lehrer zu erarbeiten. Denn die Schüler sind nicht alle gleich. Sie kennen das sicher aus Ihrer eigenen Schulerfahrung: Ein Schüler liebt den Lehrer, sein Sitznachbar hasst ihn.
In den Grundlagen zum Schweizer Lehrplan 21 steht: «Der neue Lehrplan wird den Bildungsauftrag an die Schulen kompe­tenz­orientiert abfassen. Es wird beschrieben, was alle Schülerinnen und Schüler können müssen.» Was können Sie da da­gegen haben?
Viel. Zum Beispiel halte ich es für einen Grundfehler, Kompetenzen nur als Können zu definieren. Die Schulen sind nicht nur dazu da, Können zu erzeugen, sondern auch dazu, Wissen zu vermitteln.
Geschieht das in unseren Schulen nicht mehr?
Es steht zumindest nicht mehr explizit in den Lehrplänen. Wenn es noch geschieht, dann nur, weil sich Lehrer über den Lehrplan hinwegsetzen. Weiter soll die Schule meiner Meinung nach auch Wissen vermitteln, das sich nicht in Können überführen lassen muss. Gemäss den kompetenzorientierten Konzepten sollen die Schüler alles Lernen mit einer Tätigkeit unter Beweis stellen. Es gibt aber viele spannende Dinge, bei denen das nicht möglich oder sinnvoll ist.
Zum Beispiel?
Ich nahm im Juni an einer Tagung in Zürich teil. Da schwärmte ein Mitautor des Lehrplans 21 davon, dass die Schüler im Geschichtsunterricht nicht mehr sinnlos ­Jahreszahlen auswendig lernen müssten, sondern nun Einsichten aus der Geschichte in ihrer Lebenswelt anwenden könnten. Ich erlaubte mir die Frage: «Wie schaut es denn aus, wenn der Schüler die Französische ­Revolution in seiner Lebenswelt anwendet? Stellt er in seinem Garten eine Guillotine auf?» Es gibt doch historisches Wissen, das wir hier und jetzt nicht anwenden können. Vor zwanzig Jahren hätte jeder sagen können: «Warum muss ich wissen, wie die Krim zur Ukraine kam?» Jetzt müssen wir es wissen, um zu erklären, warum es dort Krieg gibt. Was heisst in diesem Fall «kompetenz­orientiert»? Es heisst gar nix.
Bei den alten Römern hiess es: «Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir.»
Der Satz wird immer falsch zitiert, Seneca sagte: «Non vitae, sed scholae discimus.» (Nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir.) Das war natürlich ironisch gemeint. Aber ich glaube tatsächlich, die Schule sollte auch ein Raum sein, wo man sich vom Leben zurückziehen kann – «scholé» hiess ursprünglich «Musse». Der Sinn von Kultur ist es gerade, Dinge zu lernen, die kein anstehendes Lebensproblem lösen müssen. Sie können den Satz des Pythagoras lernen, ohne später als Landvermesser zu arbeiten. Die beglückendsten Momente waren in meiner Schulzeit und sind es jetzt in meiner Lehrtätigkeit, mich in eine Sache vertiefen zu können, ohne immer an die Anwendung zu denken – und am Schluss zu merken: «Hoppla, das erklärt mir doch etwas, was mit mir zu tun hat.»
Heute kommt es doch nicht mehr darauf an, über Wissen zu verfügen, sondern darauf, es erarbeiten zu können.
Das war immer so, auch die gebildetsten Menschen konnten nie alles wissen. Jeder wusste: «Wenn ich etwas wissen will, muss ich in eine Bibliothek gehen.» Das begann in der Antike mit der Bibliothek von Alexandria – so alt ist dieses Konzept. Das Einzige, was sich geändert hat: Wir müssen nicht mehr ein Schiff nach Alexandria besteigen, sondern nur das Smartphone einschalten. Um mich in der Bibliothek orientieren zu können, musste ich aber etwas wissen. Und das gilt – sogar in höherem Mass – auch für das Internet.
Sie spotten, die Jungen könnten nicht einmal richtig googeln.
Ja, weil sie zu wenig wissen. Es kommt eben auch darauf an, was ich selber weiss. Selbst was ich wieder vergesse, hinterlässt Spuren in meiner Persönlichkeit.
Mit den Jungen wird es seit Sokrates immer schlimmer. Sind Sie ein Kulturpessimist?
Nein, ich sage auch nicht, es werde immer schlimmer. Ich sage nur: Viele Möglichkeiten und Notwendigkeiten unserer Kultur enthalten wir den Jungen vor, aus falscher Menschenfreundlichkeit – das muss nicht sein. Darum bin ich auch gegen die einseitige ­Ausrichtung auf Projektarbeiten. Es bringt nichts, in einem halben Jahr wie Archimedes das Phänomen des Auftriebs mit Hilfe von Gummienten nochmals zu «entdecken»; das ist gestohlene Lebenszeit. Es ist gerade das Wesen der Kultur, dass nicht jeder alle ­Erfahrungen selber machen muss. Sonst gäbe es gar keinen Fortschritt.
Sie schreiben: «Der Widerstand in der Schweiz dokumentiert, dass nicht mehr alles zähneknirschend akzeptiert wird.»
Ja, dieser Widerstand ist neu, es gab ihn ­weder in Deutschland noch in Österreich. Er zeigt, dass es knirscht zwischen jenen, die den Lehrplan aushecken, und jenen, die ihn umsetzen müssen.
Lässt sich denn über Lehrpläne abstimmen? Wir Schweizer sind dafür berüchtigt, dass es in der direkten Demokratie angeblich auch mal falsch herauskommt.
Ja, ja. Bildungsinhalte sind vielleicht kein Fall für die direkte Demokratie, die Rahmenbedingungen aber sehr wohl. Sie könnten die Schweizer fragen: «Wollt ihr einen Lehrplan, in dem auf zehn Seiten steht, dass die Schüler lesen, schreiben, sprechen und rechnen lernen sollen? Oder wollt ihr einen Lehrplan, der auf fünfhundert Seiten vorschreibt, dass die Kinder in sechs Jahren 4500 Kompetenzen erwerben müssen?»
In der Schweiz haben Sie nur die SVP auf ­Ihrer Seite. Damit sind Sie als Intellektueller erledigt.
Wieso? Diese Initiativen gegen den Lehrplan 21 tragen – soviel ich weiss – auch linke Lehrerverbände mit. Es wäre gefährlich, die Kritik an der Kompetenzorientierung mit einer konservativen Position gleichzusetzen.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen