Sonderpädagogsche Massnahmen sind ein Konstrukt mit verwirrenden Begriffen, Bild: Beobachter, Quelle: Bildungsdirektion Zürich, Stadt Winterthur
Sonderpädagogik: Kinder in der Korrekturmühle, Beobachter, 17.10 von Daniel Benz, Birthe Homann und Tanja Polli
Devin geht in die dritte Klasse. Seit er in der
Schule ist, muss er einmal pro Woche in die Psychomotorik-Therapie,
grobmotorisch sei er zu wenig fit. Devin ist der beste Fussballer in seinem
Klub.
Eine Kindergärtnerin sagt: «Die Logopädinnen kommen
in den Chindsgi und testen alle Kinder. Sie nehmen dann die, die sie für
therapiewürdig halten. Ob es was nützt, weiss ich nicht, aber ich bin froh,
wenn die Schwierigen einen halben Morgen weg sind.»
Sofia ist eine etwas schüchterne Erstklässlerin,
wenn sie aber ihre Kolleginnen besser kennt, dreht sie richtig auf. Dreimal
forderte letztes Jahr die Kindergärtnerin die Eltern auf, Sofia in die
Psychomotorik-Therapie zu schicken, «für ein besseres Selbstbewusstsein». Sofia
spielt mit ihren Freundinnen gern Theater und lädt die Nachbarn jeweils
zu den Aufführungen ein.
zu den Aufführungen ein.
Tom schreibt nicht so schön. Deshalb musste er
letztes Semester in die Grafomotorik-Therapie. Die Mutter des Viertklässlers
auf die Frage, ob er jetzt schöner schreibe: «Nein, aber das Rumturnen hat ihm
Spass gemacht.»
Erik lispelt ein bisschen, bei s und sch stösst die
Zunge an. Die Kindergärtnerin und die Logopädin empfehlen dringend eine
Logopädie-Therapie, sonst bekomme er dann in der Schule Probleme. Die Eltern
weigern sich, üben daheim ein bisschen mit ihm. Heute spricht der Zweitklässler
fast bühnenreif und ist einer der Besten der Klasse.
Elternabend in einem Kindergarten. Eine Mutter fragt, wann denn wieder
der Waldmorgen stattfinde. Die Kindergärtnerin antwortet, sie würde ja gern
wieder in den Wald mit den Kindern, aber das sei schwierig: «Am Montag haben
ein paar Therapie, am Dienstag gehen wir schon ins Turnen, am Mittwoch haben
einige Therapie, Donnerstag ginge, am Freitag haben wieder ein paar
Therapie.»
Irritierend ist das Ausmass
Das komplizierte System der Sonderpädagogik
Realität in Schweizer Schulen 2014:
Heilpädagoginnen, Logopäden und Psychomotorik-Lehrerinnen geben sich in den
Klassenzimmern quasi die Klinke in die Hand. Ein geregelter Schulbetrieb ist so
oft kaum möglich. Sitzen denn in der Schule nur noch Kinder mit Lern-, Sprach-
und Verhaltensproblemen? Sind wirklich so viele «nicht normal»?
Fast alle Kantone vollzogen in den letzten Jahren
den Wechsel zur integrativen Förderung. Also zum Grundsatz, möglichst alle
Schüler gemeinsam in der Regelschule zu unterrichten. Das führte zu einer
Zunahme der Therapien.
Genau erfasst wurde das allerdings nur in
Ausnahmefällen, etwa in der Stadt Zürich. 388 Kinder besuchten dort im
Schuljahr 2005/2006 eine Psychomotorik-Therapie, im letzten Jahr waren es 526.
Logopädische Unterstützung bekamen 1196 Kinder, sechs Jahre später fast ein
Drittel mehr, nämlich 1535. Im gesamten Kanton werden 30 bis 40 Prozent aller
Schulkinder mit sogenannten niederschwelligen sonderpädagogischen Massnahmen
unterstützt – wie integrative Förderung oder Deutsch als Zweitsprache.
Dass diese Angebote sinnvoll sind und vielen
Kindern helfen, bestreitet im Grundsatz niemand – irritierend sind ihr Ausmass
und die oft schwer nachvollziehbaren Mechanismen, nach denen die
Unterstützungsleistungen erbracht werden.
Warum sich die Abklärungen so ausbreiten, darüber
streiten die Experten. Die einen verstehen es als «Notruf» der Schulen, die
mehr Hilfe brauchen, da es oft an genügend Personal fehlt. Andere sagen, die
Hemmschwellen der Lehrer seien gesunken, bei einem Kind ein Diagnoseverfahren
zu veranlassen – weil das nicht mehr automatisch bedeutet, dass es die
Regelschule verlassen muss.
Zudem: Wenn in einer Schule vielen Kindern Förderbedarf zugewiesen wird,
braucht es mehr Stellenprozente dafür. Die Therapeuten wiederum haben ein
Interesse daran, ihren «Kundenstamm» hoch zu halten.
«Kinder in die Therapie abgeschoben»
Roberto Rodríguez, Präsident des Zürcher
Schulkreises Uto, mit 4500 Schülern der zweitgrösste der Stadt, erklärt die
massive Zunahme der Abklärungen mit der «gesteigerten Aktivität von Schulen und
Eltern». Lehrer liessen heute sehr schnell Kinder abklären, «weil sie sich
dadurch Unterstützung erhoffen».
Ebenso wollen das die Eltern, wenn ihr Kind lispelt, verhaltensauffällig
oder langsamer ist als die anderen. «Vor allem Eltern aus bildungsnahen
Schichten fordern eine Abklärung, wenn ihr Kind etwas ausserhalb der Norm
liegt», so Rodríguez. «Es ist eine Tatsache, dass die ‹nervenden› Kinder in
Abklärungen und Therapien abgeschoben werden.»
Wie viel? Wie teuer? Wie wirksam?
Es ist unmöglich, die Ressourcen zu überblicken, die heute in
der Schweiz für sonderpädagogische Unterstützung eingesetzt werden. 2011 hat
der Bund die Verantwortung dafür an die Kantone übertragen.
Fragt man dort nach, wie viele Schulkinder Therapien und Unterstützungsangebote
benötigen, sind sich die Antworten ähnlich. Stellvertretend die Stellungnahme
aus Bern: «Eine Quantifizierung ist nicht möglich, dazu müsste jede einzelne
Schule befragt werden.» In Glarus empfiehlt man sogar, sich direkt an die Therapeutinnen
und Therapeuten zu wenden.
Letztes Jahr versuchte der Dachverband der Schweizer Lehrerinnen
und Lehrer (LCH), per Auftragsstudie den Umfang des sonderpädagogischen
Grundangebots in den Kantonen zu erfassen – und scheiterte grandios. Fazit:
«Mangelnde Transparenz bei praktizierten Modellen und fehlende Mindeststandards
bei der Qualität.»
Was der sonderpädagogische Aktionismus die Steuerzahler kostet,
lässt sich logischerweise ebenfalls nur schätzen. Die Bildungsdirektion des
Kantons Zürich hat versucht, entsprechende Zahlen zusammenzustellen. Demnach
kostete die Sonderschulung von 5011 Schülern, meist aufgrund einer Behinderung,
im Jahr 2012 rund 380 Millionen Franken. Für die niederschwelligen Massnahmen
der Sonderpädagogik, die in der von 130'693 Kindern besuchten Regelschule
getroffen werden, sind es jährlich geschätzte 220 Millionen. Davon entfällt der
Löwenanteil von 90 Millionen auf die integrative Förderung. Die therapeutischen
Angebote wie Logopädie, Psychomotorik oder Psychotherapie lassen sich die
Zürcher etwa 60 Millionen kosten.
Beachtliche Zahlen mit bedenklichem Hintergrund: Was all die
teuren Massnahmen wirklich bringen, wird bis heute kaum untersucht. Hier
bestehe ein grosser Nachholbedarf, so Beatrice Kronenberg, Direktorin der Stiftung
Schweizer Zentrum für Heil- und Sonderpädagogik. Sie ist mitverantwortlich für
die Festlegung der Qualitätsstandards, die das seit 2011 bestehende
Sonderpädagogik-Konkordat der Erziehungsdirektorenkonferenz definieren soll.
Sie
spricht von einem Tabu: «In der Schweiz haben Wirkungsstudien keine Tradition.
Wer nach dem Erfolg von sonderpädagogischen Massnahmen fragt, macht sich
schnell unbeliebt.» Im Gegensatz zu anderen Ländern verordne man in der Schweiz
gern eine Massnahme und warte erst mal ab, was passiere. Falls die
Unterstützung nicht den gewünschten Effekt bringe, sei der Reflex nicht selten,
einfach mehr davon zu fordern – statt den Ansatz zu hinterfragen. «Da muss ein
Umdenken stattfinden.»
Die angebliche „Zunahme“ der Kinder in den Therapien (Logopädie und Psychomotorik) zwischen 2005/06 und 2013 entspricht ziemlich genau den Kindern, die bisher von der Invalidenversicherung (IV) bezahlt wurden. Nachdem die IV ihre Zahlungen an diese Therapiekinder aufgrund des Nationalen Finanzausgleichs (NFA) einstellte, musste diese Kinder 2009/10 von der Volksschule übernommen werden. Es hat wohl eine Verschiebung der Therapiekinder von der IV zur Volksschule stattgefunden, aber keine Zunahme der Therapien insgesamt. Wenn nun aufgrund solcher Falschmeldungen Therapien vorenthalten würden, wären vor allem die Kinder aus bildungsfernen Milieus die Leittragenden: Ein nicht korrigierter mangelhafter Spracherwerb wirkt sich auf alle Fächer aus und senkt spätere Berufschancen drastisch.
AntwortenLöschenIm Artikel heisst es: «In der Schweiz haben Wirkungsstudien keine Tradition. Wer nach dem Erfolg von sonderpädago¬gischen Massnahmen fragt, macht sich schnell unbeliebt.» Trotzdem haben wir seit bald 30 Jahren eine wahre Schulreformflut, ohne das vorher abgeklärt wird, ob diese Reformen überhaupt etwas bringen. Es erstaunt, warum sich die Eltern nicht schon früher gegen diese Menschenexperimente gewehrt haben. Sind sie etwa einem Etikettenschwindel aufgesessen, weil es besser tönt, wenn das Kind in die Sek statt in die Realschule, in die Regel- statt in die Sonderschule geht? Wenn die Eltern nun versuchen, die Schuldigen bei den Lehrern und Therapeuten zu suchen, machen sie einen zweiten Fehler: Die Reformen wurden den Lehrern und Therapeuten aufgezwungen.