"Keiner weiss, was diese Kompetenzen bedeuten", Bild: dpa
"Wer keine Ahnung von Geschichte hat, dem hilft auch Wikipedia nicht weiter", Wirtschaftswoche, 13.10. von Ferdinand Knauss
WirtschaftsWoche Online: Herr Liessmann, Ihr neues Buch heißt 'Praxis
der Unbildung'. Wissen wir alle zu wenig?
Konrad Paul Liessman: Mir
geht es nicht um Unbildung in dem Sinne, dass man zu wenig gelesen hat oder
vieles nicht weiß. Wir wissen alle immer zu wenig. Es gab immer mehr in den
Archiven und Bibliotheken, als man als einzelner wissen kann. Mir geht es um
die Begriffsverwechslung, die darin besteht, dass man uns bestimmte
Einrichtungen und Entwicklungen als Bildung verkaufen will, obwohl es sich dabei um Dinge
handelt, die die Idee der Bildung sabotieren und zerstören.
WirtschaftsWoche: Ihr Buch ist eine Streitschrift. Die schreibt man,
weil man wütend ist. Was ist der Anlass für Ihre Wut?
Mich hat die Hörigkeit gegenüber der PISA-Ideologie
wütend gemacht, die Ausrichtung des gesamten Bildungssystems in Deutschland und
Österreich an einem höchst fragwürdigen Test. Der zweite Grund, der auch schon
für mein Vorgängerbuch „Theorie der Unbildung“ eine große Rolle spielte, ist
die so genannte Bologna-Reform der Universitäten. Dazu kommt noch die
Kompetenzorientierung in den Studien- und Lehrplänen, die ich sehr kritisch
sehe.
Also das Ersetzen des Bildungszieles Wissen durch Fähigkeiten.
Keiner weiß genau, was diese Kompetenzen bedeuten.
Sie sind höchst fragwürdig, völlig schwammig, ideologisch aufgeladen und
beliebig.
Wie kam es dann dazu, dass man sie für so wichtig hält?
Das kommt historisch eher aus der Wirtschaft.
Ursprünglich bedeutet Kompetenz so etwas wie Zuständigkeit. Ein Minister kann
sagen: Dieses Thema fällt nicht in meine Kompetenz. Aber so wird das Wort kaum
noch verwendet. Der heutige Kompetenzbegriff entstand im Zuge der
Taylorisierung von Arbeitsprozessen. Also durch den Versuch, nicht nur zu
messen, wie lange es dauert, bis ein Arbeiter bestimmte Arbeitsschritte
vollzogen hat, sondern auch zu bestimmen, wie diese Leistungen verbessert
werden können - indem man die zugrunde liegenden Fähigkeiten beobachtet und
dann den Arbeiter schult und optimiert. Der Gedanke dahinter ist also, den
Menschen aufzusplittern in einzelne, isoliert zu bewertende Fähigkeiten.
Kompetenzorientierung heißt also Bildungsziele und -ergebnisse in Zahlen
auszudrücken.
Es ist skurril, dieses Bedürfnis nach
Quantifizierung und einer analytischen Zergliederung. Der neue Schweizer
"Lehrplan 21" für Grundschulen zum Beispiel listet auf 500 Seiten
rund 4500 Kompetenzen auf, die die Sechs- bis Elfjährigen erwerben sollen. Jede
Regung des Schülers wird als Kompetenz definiert und soll überprüft werden.
Aber natürlich kann das niemand, weil niemand wirklich weiß, was solch eine
Kompetenz überhaupt ist, geschweige denn wie diese gemessen werden soll.
Die PISA-Macher von der OECD behaupten, dass sie es können.
Aber sie können es nicht. Ein Beispiel: Zentral in
allen Lehrplänen in Deutschland und Österreich ist die so genannte
Selbstkompetenz. Wie ist die überhaupt definiert? Wann ist ein Schüler
selbstkompetent entsprechend der acht Niveaus, die die EU vorgibt? Wenn er sich
selbst anziehen kann? Selbst essen kann? Sich verlieben kann? Das ist doch
unsinnig. Wie will man das bewerten? Oder nehmen wir die so genannte
Reflexionskompetenz. Wenn ein Sechsjähriger sagt: „Ich sehe das nicht so“ - ist
der dann schon reflexionskompetent? Oder wenn ein 18-Jähriger sagt, dass er
dieses oder jenes oder auch gar nichts denkt? Hier ist der Ideologisierung der
Schule Tür und Tor geöffnet.
Wie erleben Sie als Hochschullehrer konkret die Praxis der Unbildung?
Und was tun Sie selbst dagegen?
Oasen der Bildung gibt es nicht mehr. Das ist auch
ein Grund, warum ich diese Streitschrift geschrieben habe. Wir erleben an der
Universität die Praxis der Unbildung etwa in Form der Rahmenstudienpläne. Ich
habe es immerhin geschafft, dass aus dem für die Lehramtsstudenten in
Philosophie die Kompetenzorientierung gestrichen wurde. Ich habe gesagt: Nur
über meine Leiche. Das wollte man dann doch nicht.
Wenn ich mit Lehrern und Professoren über PISA oder die Bologna-Reformen
spreche, äußern die fast immer ähnliche Ansichten wie Sie. Aber öffentlich wehren
sie sich kaum dagegen.
Ja, das ist leider so. Ich finde es auch
erstaunlich, wie passiv und resigniert die deutschen Universitäten den
Bologna-Prozess über sich ergehen ließen und vieles noch in vorauseilendem
Gehorsam exzessiv verschärfen. Obwohl es keines besonderen Mutes für einen
Professor bedarf zu sagen: Ich mache nicht mit. Oder: Das finde ich falsch. Ich
wollte gerade nicht zu denen gehören, die nur hinter vorgehaltener Hand klagen.
Darum habe ich dieses Buch geschrieben. Auch um andere zu ermutigen, ihr
Unbehagen zu artikulieren.
Wie unterscheiden sich die Studenten, die heute an die Uni kommen, von
den früheren?
Ich will das nicht pauschalisieren. Nicht alle sind
prinzipiell ungebildeter. Viele können heute zum Beispiel besser Fremdsprachen
als vor 20 oder 30 Jahren. Ein gewisses Maß an Kompetenzorientierung gerade im
Sprachunterricht ist auch durchaus sinnvoll. Aber ich wehre mich dagegen, dass
man das allen Fächern überstülpt. Vor allem jenen Fächern, in denen es nicht um
Fähigkeiten, sondern um Inhalte geht. Ein Geschichtsunterricht, in dem keine
historischen Ereignisse mehr vorkommen, ist kein Geschichtsunterricht.
Müssen Sie Ihren Erstsemester-Studenten also zunächst mal erklären, wer
Kant und wer Hegel waren?
Selbst die großen Namen der Geistesgeschichte kann
man nicht mehr als bekannt voraussetzen. Man muss ihnen oft sogar erklären, wer
Adam und Eva waren, weil selbst Grundkenntnisse der abendländischen Kultur
fehlen.
Dafür gibt es, könnte man einwenden, heute Google und Wikipedia.
Wenn sie bei Google etwas finden, fehlt ihnen aber
oft das Wissen, um es richtig einzuordnen. Wer überhaupt keine Ahnung hat von
jüdisch-biblischer Geschichte, dem hilft auch der Wikipedia-Artikel über König
David so gut wie gar nicht. Die Studenten stöhnen auch schon, wenn sie einen
Ausschnitt von 20 Seiten lesen sollen. Neugierde darauf, wie ein Gedanke in
einem Text entwickelt wird, gibt es nicht mehr. Sie wollen gleich das Ergebnis
haben, möglichst knapp und effizient. Das entspricht dem Zeitgeist der Unbildung:
Keine geistigen Ressourcen verschwenden. Es gibt aber keinen Geist ohne
Verschwendung!
Ein akademisches Studium also, das ganz nach ökonomischen Kriterien
ausgerichtet ist.
Deswegen drehen sich viele Debatten über
Bildungsinhalte um die Frage: Werden die Schüler das in 15 Jahren noch
brauchen? Dabei ist jeder anmaßend, der beurteilen zu können glaubt, was wir in
15 Jahren noch anwenden werden. Wir wissen das ebenso wenig, wie man vor 15
Jahren wusste, was wir heute brauchen.
Was sollte stattdessen ein Kriterium für das Lehrangebot sein?
Ich plädiere für die Vermittlung jenes Wissens, von
dem man ahnen kann, dass es sich nicht so bald überlebt, weil es schon bisher
die Zeiten überdauert hat. Ich bin nicht so sicher, ob man den frisch gekürten
Literaturnobelpreisträger Patrick Modiano in 200 Jahren noch lesen wird. Aber
ich bin ziemlich sicher, dass man Sophokles und Shakespeare in 200 Jahren noch
lesen wird.
Erzeugt eine von der Ökonomie beherrschte Gesellschaft Unbildung oder
ist es umgekehrt: Macht erst die wachsende Unbildung die allgemeine
Ökonomisierung möglich?
Beides schaukelt sich gegenseitig auf. Es gehört schon ein gerütteltes
Maß Unbildung dazu, in quantifizierenden Verfahren wie PISA einen Fortschritt
zu erkennen. Bei vielen dieser Leute fehlt eine Idee von Bildung. Die haben einfach keine Ahnung. Viele
Humboldt-Kritiker haben ihn nie gelesen.
Gehört zu den negativen Folgen der Ökonomisierung auch die Zunahme
privater Schulen und Hochschulen?
Meine Sorge betrifft nicht die Frage, wer
Bildungsinstitutionen finanziert. Das können Private genauso wie der Staat. Mir
geht es um diese Scheinökonomisierung durch die Einführung künstlicher
Wettbewerbe mit Vergleichstests. Man tut so, als seien Schulen und
Universitäten Dienstleistungsunternehmen. Das sind sie natürlich nicht. Man tut
so, als seien Studenten Kunden. Das sind sie natürlich nicht. An einer
richtigen Universität sind alle mehr oder weniger Mitglieder einer Lern-, Lehr-
und Forschungsgemeinschaft. Wir stülpen also dem, worum es geht und was gemacht
wird, Begriffe über, die nicht angemessen sind. Wenn man dann mit Regeln aus
der Wirtschaft kommt, die ganz andere Zwecke haben, knirscht es an allen Ecken
und Enden. Dann kommen perverse Ergebnisse heraus.
Zum Beispiel?
Es verändert das Bewusstsein. Als ich als Student
an die Universität kam, habe ich aufgeatmet: Freiheit! Ich habe mich auch sofort
ernst genommen gefühlt als Mitglied einer neugierigen, forschenden,
diskutierenden Gemeinschaft. Aber wenn man als Kunde behandelt wird, lehnt man
sich zurück und sagt: Was habt ihr mir zu bieten? Und die Studenten sind
enttäuscht, weil sie nicht mehr wissen, was es heißt, Student zu sein.
Also weg mit dem Wettbewerb?
Wettstreit gab es immer in der Wissenschaft. Sich
gegenseitig zu kritisieren, ist die authentische Form akademischen Wettbewerbs.
Aber eben nicht das Zählen von Aufsätzen in bestimmten Journals mit bestimmtem
Impact Factor. Ludwig Wittgenstein, einer der einflussreichsten Philosophen des
20. Jahrhunderts, hat überhaupt nur ein Buch veröffentlicht. Der hätte heute
keine Chance.
Ihre Bücher sind Bestseller, werden in den Medien diskutiert. Gibt es
darauf aus der Bildungspolitik Reaktionen?
Meine kritischen Überlegungen werden wohl wahr-, aber vielleicht nicht
wirklich ernst genommen. Mit dem früheren österreichischen
Wissenschaftsminister Karlheinz Töchterle, einem Altphilologen, bin ich befreundet.
Er stimmte mir zu, dass das System der Credit-Points für Studenten unsinnig
ist. Aber er könne halt nichts machen, sagte er, da es einen europaweiten
Konsens dafür gebe. Bei anderen habe ich den Eindruck, die verfolgen ein
bildungspolitisches Programm, das oft parteiideologisch geprägt ist. Auf
kritische Fragen lässt man sich nicht ein. Mecklenburg-Vorpommerns
Bildungsminister Mathias Brodkorb mit seiner Skepsis gegen die
Kompetenzorientierung ist eine positive Ausnahme.
Nehmen wir mal an, ein Bundeskanzler käme auf die Idee, Sie zum Minister
zu machen…
... was ich gar nicht sein will...
...oder Sie könnten hinter den Kulissen die Bildungspolitik bestimmen,
was wäre zu tun?
Die Bologna-Reformen an den Universitäten so weit
wie möglich rückgängig machen! Vor allem das europäische Credit-Points-System
ECTS und die Modularisierung der Lehrveranstaltungen würde ich abschaffen
beziehungsweise lockern. Das hat zu einer völligen Verwilderung der
Studienfächer geführt. Ich würde die Kompetenzorientierung aus den
Schullehrplänen streichen und zu einem an Inhalten orientierten Unterricht
zurückkehren. Und an den Grundschulen zu einer Didaktik, mit der die Kinder
wirklich Lesen und Schreiben lernen.
Viele Bildungsforscher und -politiker halten Sie vermutlich für einen
Reaktionär.
Die modischen Methoden kritisch unter die Lupe zu
nehmen, heißt nicht, den Rohrstock wieder einzuführen. Als ob die einzige
Alternative die Schule des 19. Jahrhunderts wäre! Es muss doch ein Unterricht
möglich sein, in dem Grundschüler auf freundliche und sanfte Art darauf
aufmerksam gemacht werden, dass sie ein Wort falsch geschrieben haben. Es gibt
ein Maß an scheinbarer Kinderfreundlichkeit, die eigentlich eine
Kinderfeindlichkeit ist, weil sie die Kinder um Chancen betrügt. Und wenn
Reformen das Gegenteil des Intendierten hervorbringen, dann ist ein Rückbau
nicht reaktionär, sondern ein Gebot der Klugheit. Niemand, der sein Auto in
eine Sackgasse manövriert, hält Umdrehen für reaktionär!
Viele Eltern fürchten nicht so sehr die verpassten Bildungschancen ihrer
Kinder, sondern wollen vor allem, dass die Kinder gute Chancen fürs Berufsleben
haben.
Die Grundlagen für eine gute Bildung sind, glaube ich, auch gute Grundlagen dafür,
in der Arbeitswelt nicht unterzugehen. Die Idee einer qualifizierenden
Berufsausbildung und die einer humanistischen Bildung schließen sich nicht aus.
Das hat schon Humboldt so gesehen. Die Auseinandersetzung des Menschen mit sich
selbst und der Welt ist nicht ein eigener Bildungsweg im Gegensatz zu
beruflicher Ausbildung. Bildung geht, wie Humboldt sagt, auch jeden Schuster
an.
Was ist denn der wesentliche Unterschied zwischen Ausbildung und
Bildung?
Der Philosoph Peter Bieri hat das so beschrieben:
Ausbilden können uns andere, mit dem Ziel etwas zu können. Bilden kann ich mich
letztlich nur selbst, mit dem Ziel zu erkennen, wie ich in der Welt stehe.
Menschen, die nur ausgebildet werden und sich nie mit etwas befassen können,
werden um die Chance betrogen, Dinge und Menschen um ihrer selbst Willen
wahrzunehmen und schätzen zu lernen. Ich möchte nicht in einer Gesellschaft
leben, in der alles und jeder ständig nur auf seinen Nutzen hinterfragt wird.
Ich möchte nicht in einer Gesellschaft leben, in der Menschen im Museum sich
fragen: Trägt dieses Bild zu meiner visuellen Kompetenz bei? Ich möchte, dass
Menschen beeindruckt, erschüttert, berührt vor einem Rembrandt oder Van Gogh
stehen und sich sagen: Wie wunderbar in einer Welt zu leben, in der etwas so
Schönes und doch Irritierendes erschaffen wurde. Und es ist völlig egal, ob
dieser Mensch Bauarbeiter, Informatiker oder Universitätsprofessor ist.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen