Im 19. Jahrhundert war der Fremdsprachenunterricht
in der Volksschule der deutschsprachigen Schweiz auf die Sekundarschulen
beschränkt und wurde ausschliesslich wirtschaftspolitisch begründet: Die
künftige Elite sollte für eine Laufbahn in anspruchsvollen Berufen Französisch
lernen. Für die grosse Mehrheit hingegen galt das Beherrschen mehrerer Sprachen
aus pädagogischen Gründen (Überforderung) als unmöglich. Nach dem Ausbruch des
Ersten Weltkrieges befürchteten politische und intellektuelle Kreise, die
Schweiz könne entlang der Sprachgrenze auseinanderbrechen. Dem
Fremdsprachenunterricht wurde deshalb neu eine nationalpolitische Bedeutung
zugewiesen: Schülerinnen und Schüler sollten die Landessprachen lernen, die
Mehrsprachigkeit der Schweiz sollte Teil ihrer Identität werden. Von einer
besseren Verständigung über die Sprachgrenzen hinweg erhoffte man sich einen
Beitrag zur Sicherung des nationalen Zusammenhalts. Dieser Anspruch richtete
sich im Zuge der geistigen Landesverteidigung an alle Schülerinnen und Schüler.
Die Autoren fordern Kompromissbereitschaft und Mässigung, was uns teuer zu stehen kommt, Bild: germanlessonsgta.wordpress.com
Für eine Mässigung in der Fremdsprachenfrage, NZZ, 28.10. von Lucien Criblez, Anja Guidici und Flavian Imlig
Frühes Fremdsprachenlernen
Diese nationale Vision wurde in der zweiten Hälfte
des 20. Jahrhunderts durch die zunehmende Bedeutung des Englischen bedroht.
Nationalpolitisch war Französisch, wirtschaftspolitisch aber neu Englisch
legitimiert. Die Bildungspolitik versuchte den unmöglichen Spagat: 1992
deklarierte die Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) die
Kenntnis sowohl dreier Landessprachen als auch einer internationalen
Kommunikationssprache zum Richtziel des schulischen Sprachenlernens. Damit war
ein weitreichender Bildungsanspruch für alle formuliert.
Der Fremdsprachenunterricht blieb zunächst auf die
Sekundarstufe I konzentriert. Ab den 1970er Jahren wurde vor dem Hintergrund
entwicklungspsychologischer sowie psycho- und soziolinguistischer Erkenntnisse
zum Spracherwerb und zur kognitiven Aufnahmefähigkeit im Kindesalter die
Vorverlegung des Fremdsprachenlernens in die Primarschule zum mehrheitlich
anerkannten Programm schulischer Sprachenpolitik. Neue kommunikative Ansätze
und Methoden beflügelten die optimistischen Erwartungen in die pädagogischen
Möglichkeiten eines möglichst früh beginnenden Fremdsprachenlernens. Bis in die
1990er Jahre war Französischunterricht in der Primarschule in fast allen
Kantonen Realität.
Die Betonung der wirtschaftspolitischen Bedeutung
des Englischen zeigte im Kontext der Globalisierung in den 1990er Jahren
Wirkung: In Zürich, Appenzell Innerrhoden und der Zentralschweiz fielen
politische Entscheide zugunsten des Englischen. Die politische
Auseinandersetzung zwischen den Kantonen drehte sich nun um die
nationalpolitisch aufgeladene Frage, ob Englisch einer Landessprache
vorzuziehen ist. Sie mündete 2004 im Sprachenkompromiss, mit dem die EDK den
Fremdsprachenunterricht pragmatisch zu koordinieren versuchte. Der Kompromiss
geht davon aus, dass in einer zweiten Landessprache und in Englisch bis zum
Ende der obligatorischen Schulzeit die gleichen Bildungsziele erreicht werden,
beginnend in der 3. und 5. Primarschulklasse. Die Reihenfolge wurde bewusst
nicht festgelegt. Mit sprachübergreifenden Zielen wurde der Bildungsanspruch
für alle ausgeweitet und vorwiegend pädagogisch und nationalpolitisch
legitimiert.
Zunächst zurückhaltend, dann umso heftiger entstand
erneut politischer Widerstand, diesmal gegen den Sprachenkompromiss. Zwei
Kantone rückten 2014 von ihm ab, in andern sind entsprechende Vorstösse hängig.
Auch massgebliche Kreise der Lehrerschaft wechselten ins Lager der Kritiker.
Dem optimistischen pädagogischen Programm des frühen und weitreichenden
Sprachenlernens für alle wird entgegengehalten: Zwei Fremdsprachen in der
Primarschule würden Kinder und Lehrpersonen überfordern, das Lernen in der
Erstsprache beeinträchtigen, die Unterrichtszeit in den musischen Fächern verringern,
damit die ganzheitliche Bildung gefährden und einen Ausbau im Mint-Bereich
verhindern. Diese Kritik wird mit neueren, teilweise allerdings
widersprüchlichen Forschungsresultaten begründet, die zeigen, dass die Effekte
des frühen Fremdsprachenlernens insbesondere bei leistungsschwachen Kindern nur
teilweise nachhaltig sind und dass die neuen fachdidaktischen Ansätze ihre
Versprechen nur teilweise einlösen konnten, auch weil ihre Adaption auf den
Primarunterricht nur ungenügend gelang.
Die Bildungsdirektoren stehen vor einem schweren
Entscheid, denn unterschiedliche Legitimationsstränge führen mit je
nachvollziehbaren Argumenten zu unterschiedlichen Lösungen der schulischen
Fremdsprachenfrage. Die eine, richtige Lösung kann es nicht geben, denn je nachdem,
wie die Argumente gewichtet werden, kommt man zu einem andern Ergebnis.
Kompromiss in jedem Fall
Gerade weil es sich um einen normativen Entscheid
im Sinne der Gewichtung von Argumenten handelt, sind Mässigung im
Allgemeingültigkeitsanspruch der eigenen Argumentation und
Kompromissbereitschaft gefragt. Das nationalpolitische Argument kann leicht zum
nationalistischen verkommen, der idealistische Bildungsanspruch kann nicht
einfach gegen jede Erfahrung aufrechterhalten werden, und der Schutz der leistungsschwachen
Lernenden darf nicht zum populistischen Argument verkommen oder zur Aufgabe des
grundlegenden Bildungsanspruchs für alle führen.
Angesichts begrenzter Zeitbudgets in der Schule
geht es aber letztlich auch darum, für einen politisch definierten
Bildungsanspruch die entsprechenden Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Auch
in dieser Hinsicht sind die Bildungsdirektoren - unabhängig von der Ausprägung
des Kompromisses - gefordert.
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