Leicht lernbehinderter Schüler in einer Regelklasse, Bild: G. Lüchinger
Wenn die Sonderschulen abgeschafft würden, Bund, 11.7. von Mireille Guggenbühler
Eva
Baltensperger, SP-Grossrätin und Präsidentin des Vereins Volksschule ohne
Selektion, hat in den letzten Monaten interessiert nach Deutschland geschaut.
Denn dort ist gerade eine grosse Debatte im Gang: nämlich darüber, was für ein
Schulsystem das Land eigentlich will.
Oder etwas
beispielhafter ausgedrückt: Schüler Henri, wohnhaft in einem deutschen
Bundesland, hat eine ganze Nation gespalten. Und zwar in der Frage, ob es
sinnvoll ist, einen geistig behinderten Schüler auf ein Gymnasium zu schicken,
wie das seine Eltern gerne gemacht hätten, damit ihr Sohn weiterhin mit seinen
Freunden zur Schule gehen kann. Die Schulkonferenz lehnte die Schulung von
Henri ab mit der Begründung, die Rahmenbedingungen stimmten dafür nicht.
Die Debatte
kochte daraufhin hoch, und zwar deshalb, weil Deutschland die UN-Konvention
über die Rechte von Menschen mit Behinderungen unterzeichnet hat. Darin ist
unter anderem in Artikel 24 festgehalten, dass sich die Vertragsstaaten einem
inklusiven Schulsystem verpflichten. Einem System also, in welchem behinderte
Kinder, Jugendliche und Erwachsene nicht aufgrund ihrer Behinderung vom
allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden und in welchem sie gemäss
Konvention ein Anrecht auf «hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht an
Grundschulen, Sekundarschulen und weiterführenden Schulen haben».
Kanton soll Diskussion anstossen
In der
Schweiz gibt es keine Diskussion um einen Fall Henri. Noch nicht. Im Gegenteil:
Kaum jemand hat wahrgenommen, dass auch die Schweiz im Mai dieses Jahres die
UN-Konvention unterzeichnet und sich damit ebenfalls der Schaffung eines
inklusiven Bildungssystems verpflichtet hat. Das zumindest fordert
SP-Grossrätin Eva Baltensperger in ihrer Funktion als Präsidentin des Vereins
Volksschule ohne Selektion. Denn sie findet, dass sich die einzelnen Kantone
nun intensiv damit auseinandersetzen müssten, was der Artikel 24 im Detail
bedeute. Auch vom Kanton Bern erwarte sie dies, sagt Baltensperger. «Der Kanton
Bern muss sich der Frage stellen, was es bedeuten würde, ein inklusives
Schulsystem zu schaffen.» Für sie selber ist klar: «Die Zuweisung von Kindern in
Sonderschulen oder in Klassen mit besonderem Förderbedarf muss ebenso überprüft
werden wie die Selektion während der obligatorischen Schulzeit.» Dies sei nicht
kompatibel mit der Konvention.
In
Deutschland wurde nach der Unterzeichnung der Konvention nicht nur über die
Aufnahme von Sonderschülern an weiterführende Schulen, sondern auch über die
Abschaffung der Sonderschulen diskutiert.
In der
Schweiz hätte die Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) gerne verbindlich
festgehalten, inwieweit die Schweiz beziehungsweise die einzelnen Kantone mit
ihren Schulsystemen die Konvention schon erfüllen. Und zwar vor der
Ratifizierung der Konvention. Die EDK, die sich mit der Konvention und Artikel
24 auseinandersetzte, hegte gewisse Befürchtungen die Konsequenzen von Artikel
24 betreffend: «Der Artikel 24 ist auslegungsbedürftig, und wir hätten uns
vorgängig eine interpretative Erklärung gewünscht, um allenfalls später
Diskussionen zu vermeiden», sagt Gabriela Fuchs von der EDK.
Doch eine
solche Erklärung gibt es nicht. Dafür wurde bei Abschluss der Konvention
bundesseits darauf hingewiesen, dass die Schweiz die Vorgaben der Konvention
aufgrund des Behindertengleichstellungsrechts ja bereits erfülle und ergo eine
solche Erklärung nicht notwendig sei.
Auch für
Erziehungsdirektor Bernhard Pulver steht fest, dass die Schweiz beziehungsweise
der Kanton Bern die Konvention bereits erfüllt. Und zwar weil Artikel 17 im
Volksschulgesetz die Schulen unter anderem zur Integration von behinderten
Kindern verpflichtet.
Pulver sieht Handlungsbedarf
Dennoch:
Pulver sieht durchaus Handlungsbedarf. Wenn er auch nicht gerade die
Sonderschulen abzuschaffen gedenkt, so kann er sich zumindest vorstellen, diese
künftig den Volksschulen gleichzustellen. Denn: Aufsicht und Finanzierung der
Sonderschulen im Kanton Bern sind anders geregelt als bei der Volksschule,
zudem haben die beiden Schulen nicht denselben Lehrplan. Für die Sonderschulen
ist die Fürsorgedirektion (GEF), für die Volksschule die Erziehungsdirektion
(ERZ) zuständig.
Sobald ein
Kind als Sonderschüler gilt, ist zudem nicht mehr automatisch der Staat,
sondern sind die Eltern für dessen Bildung verantwortlich. Diese
unterschiedlichen Regelungen, insbesondere auch, dass nicht der Staat für die
Bildung der Sonderschüler zuständig ist, fördert laut Pulver, «dass ein Kind
als Sonderschüler gestempelt ist». «Zwischen Sonder -und Regelschüler sollte
deshalb nicht mehr unterschieden werden. Künftig dürfte es ganz einfach nur
noch Kinder geben, die einen Bildungsanspruch haben», so Pulver. In einem
Projekt mit der GEF will die ERZ deshalb prüfen, wie sich eine Annäherung
zwischen Sonder- und Volksschule umsetzen liesse.
Doch
erfüllt der Kanton damit die Forderungen der UN-Konvention nach einem
inklusiven Schulsystem? «Die Frage ist vielleicht die, wie stark integrativ ein
Schulsystem am Ende denn sein soll. Heisst Inklusion, dass auch
schwerstbehinderte Kinder die Regelschule besuchen sollen?», fragt Pulver. Die
Antwort darauf gibt er sich gleich selber: «Ich bin überzeugt, dass es Eltern
von behinderten Kindern gibt, welche ihr Kind auch weiterhin lieber in einer
Sonderschule wissen.» Pulver kann sich deshalb nicht vorstellen, dass es im
Kanton Bern künftig keine Sonderklassen oder -schulen mehr geben wird.
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