"Es gibt Erneuerungen im Schulwesen, die grossartig sind, dies aber eher einmal im Jahrhundert als einmal pro Monat", Bild: Christian Beutler
"Leider gibt es an den Schulen eine Neo-Manie", NZZ, 26.7. Interview von Lucien Scherrer mit Roland Reichenbach
Herr Reichenbach, in mehreren Zürcher Gemeinden protestieren
Eltern und Lehrer gegen alternative Lernformen wie das selbstorganisierte und
das altersdurchmischte Lernen. Sie behaupten, diese Unterrichtsformen sorgten
für Unruhe und Überforderung. Ist diese Kritik berechtigt oder ein Aufschrei
von Ewiggestrigen?
Die
beiden Themen, selbstorganisiertes Lernen und altersdurchmischte Schulklassen,
sind zu unterscheiden, auch wenn sie oft kombiniert werden. Im Hintergrund des
selbstorganisierten Lernens steht das Bildungsziel der Selbstregulation. Diese
Vokabel hat momentan eine hohe gesellschaftliche Akzeptanz. Die pädagogische
Frage ist aber, ob, wann und in Bezug auf welche Inhalte die Schüler und
Schülerinnen fähig sind, mehr oder weniger selbstbestimmt und
selbstkontrolliert zu lernen. Die Realität des Lernens mag eine ganz andere
sein, als der verführende Begriff suggeriert. Gerade mittelstarke und vor allem
leistungsschwache Kinder brauchen mehr Führung, Unterstützung und Kontrolle
durch die Lehrperson – ihnen könnte ein falsch verstandenes didaktisches
Konzept besonders schaden, während die Starken in praktisch jeder pädagogischen
Welt gute Leistungen zeigen.
Sie sagen «könnte schaden» – gibt es
dafür Belege?
Ja.
Offene Lernformen haben zwar überall einen sehr guten Ruf, aber in empirischen
Studien schneiden sie meist höchst ambivalent ab. Gerade dass bei schwächeren
Schülern die Leistung sinkt, wenn man ihnen zu viel zumutet, ist gut belegt. So
hat der neuseeländische Bildungsforscher John Hattie festgestellt, dass der
Lehrer für den Lernerfolg zentral ist – wobei der Erfolg am grössten ist, wenn
er den Unterricht möglichst lenkt und strukturiert. Die Studie hat im
Bildungsbetrieb viele Leute verärgert. Denn sie sagt genau das Gegenteil von
dem, was heute propagiert wird.
Wie beurteilen Sie das Konzept des
altersdurchmischten Lernens?
Zunächst
sollte man akzeptieren, dass sich meist eh schon zirka drei Jahrgänge von
Kindern in der Regelklasse versammeln. Die Befürchtungen der Eltern, die
älteren Kinder würden weniger profitieren, wenn sie mit jüngeren die Klasse
teilen, ist aber auch bei den bekannten Versuchen, etwa in der Basisstufe,
unbegründet. Altersdurchmischung ist ein Faktum des sozialen Lebens, die Altershomogenität
in der Schule ist künstlich und im Grunde neuen Datums. Während
altersdurchmischte Gruppen akademisch weder stärker noch schwächer werden,
profitieren sie im Bereich des sozialen Lernens.
Inwiefern?
In
Untersuchungen hat man festgestellt, dass die Kleinen dank dem Kontakt mit
Erst- und Zweitklässlern einen leichten Wissenszuwachs gegenüber Gleichaltrigen
aufweisen. Wichtig scheint mir aber, dass ältere Kinder von den Kleinen nicht
am Lernerfolg gehindert werden. Diese Befürchtung hört man oft von Eltern mit
Aspirationen im Bildungsbereich, aber sie trifft nicht zu.
Was ist mit dem oft ins Feld
geführten Lärmpegel?
Das
ist ein grosses Problem, aber kein spezifisches des altersdurchmischten
Lernens. Im Fall des selbstorganisierten Lernens würde ich dagegen klar von
einem spezifischen Problem sprechen. Dieses Konzept ist pädagogisch zu wenig
durchdacht. Denn wenn jeder Schüler hauptsächlich für sich selber lernen soll,
warum braucht es dann überhaupt noch Klassenzimmer?
Der Lehrer spielt im Fall des
selbstorganisierten Lernens nur noch eine (Neben-)Rolle als «Coach». Kommt das
gut?
Dahinter
steckt die Ansicht, dass alles, was der Mensch selber tut, gut ist. Und dass
alles, was von aussen kommt, schlecht ist. Da schimmert die alte Angst vor der
Macht des Lehrers durch, die in den siebziger Jahren zu faktischen
Berufsverboten für linke Lehrer führte. Heute spricht niemand mehr von
«Indoktrinierung», aber es ist, als ob die Lehrperson didaktisch überflüssig
gemacht werden soll. Dabei wissen alle, dass sie wichtig ist. Nicht nur jeder,
der ernsthaft über seine eigene Schulkarriere nachdenkt, sondern auch die
empirischen Bildungsforscher wissen es – oder besser gesagt, sie könnten es
wissen, sofern sie bereit wären, dieses biedere Element der schulischen Bildung
zu akzeptieren.
Wäre in Zeiten, in denen jeder mit
seinem Handy beschäftigt ist, nicht mehr gemeinsamer Unterricht gefragt, unter
Anleitung eines Klassenlehrers?
Der
meiste Unterricht ist auch heute «lehrerzentriert», was für mich übrigens kein
Schimpfwort ist. Klassenlehrer sind besonders bedeutsam. Was kann es Besseres
für ein Schulkind geben als eine Lehrperson, die dem Kind drei Dinge zeigt:
Erstens, dass das, was gelernt werden soll, wichtig ist. Zweitens, dass der
Schüler diesen Inhalt lernen kann. Drittens, dass der Lehrer das Kind dabei
unterstützt. Das sind die Elementarien. Der Rest sind eher
Oberflächenphänomene, über die viel sinnlos gestritten wird.
Wie wichtig sind Unterrichtssysteme
überhaupt für den Lernerfolg?
Wenn
mit «Unterrichtssystemen» konkrete Varianten des Unterrichtens gemeint sind,
dann ist die positive oder negative Wirkung auf den Lernerfolg sehr gross. Wenn
damit das Bildungssystem als Ganzes oder das Schulsystem gemeint ist, dann
gilt: Die Wirkung auf konkretes Lernen ist gering. Wie gesagt: Einer der
stärksten Faktoren für den Lernerfolg ist die Lehrperson. Statt das
anzuerkennen, erfindet man dauernd neue Unterrichtskonzepte und geht damit auf
die Kinder los, mitunter getrieben von einem allzu grossen Machbarkeitsglauben.
Dennoch sind neue Lernformen im
Trend, gerade an den Pädagogischen Hochschulen. Wie gross ist der moralische
Druck auf die Schulen, diesem Trend zu folgen?
Es
gibt meines Erachtens verschiedene pädagogische Gottesdienste. Momentan ist
typisch, dass das Nicht-Typische besonders hohe Anerkennung bewirkt. Dafür wird
der herkömmliche Unterricht mit moralisierenden Argumenten eher
schlechtgeredet. Das halte ich nicht für begrüssenswert. Die Stärken
«herkömmlichen» Unterrichts gilt es ebenso anzuerkennen. Es ist bedenklich,
wenn die Schule der Innovationsrhetorik auf den Leim geht. Erneuerungen sind,
wenn überhaupt, nur langsam umzusetzen. Die Trägheit des Systems ist auch ein
Garant für Verlässlichkeit und Stabilität, nicht einfach bloss Indiz mangelnder
Anpassungsbereitschaft. Es gibt auch in der Schule eine «Neo-Manie», die
abzulehnen ist. Es gibt Erneuerungen, die grossartig sind, dies aber eher
einmal im Jahrhundert als einmal pro Monat – etwa die Erkenntnis, dass das Kind
Bedürfnisse hat, die man ernst nehmen sollte, statt diese zu bekämpfen.
Heute experimentieren die
Volksschulen mit individualisierten Lernformen, um der zunehmenden
Heterogenität im Klassenzimmer zu begegnen. Wie müsste die Schule Ihrer Meinung
nach mit diesem Problem umgehen?
Heterogenität
ist ein soziales Faktum, Homogenität eine Illusion. Die Unterschiede zwischen
den Menschen können das Unterrichten – aus unterschiedlichen Gründen – extrem
erschweren. Zu behaupten, dass diese Probleme mit individualisiertem Unterricht
alle gelöst werden können, halte ich für blauäugig. Die Debatte über die
Inklusion lernschwacher Schüler zeugt von dieser Manie der politischen
Korrektheit. Wer die Schwierigkeiten, Befürchtungen und Hoffnungen von Eltern,
Lehrpersonen und Schülern nicht ernst nimmt und es einfach besser weiss, was
für die Schule richtig und gut ist, wird in diesem Land meistens früher oder
später jäh gebremst. Selbstregulation ist also nicht nur eine Chimäre.
Gemäss herrschender Lehrmeinung ist
heute nicht primär reines Wissen gefragt. Im Zentrum stehen Kompetenzen wie
Selbständigkeit und soziales Handeln. Teilen Sie diese Einschätzung?
Da
niemand etwas gegen Kompetenzen haben kann, handelt es sich auch hier um einen
Gottesdienst, um ewig wiederholte, kaum analysierte oder kritisch reflektierte
Vokabeln, bildungspolitische und -praktische Mantras. Natürlich sind
Kompetenzen wichtig, und natürlich müssen sie gefördert werden. Doch sämtliche
schulischen Lerninhalte nur noch durch die Kompetenz-Perspektive zu betrachten,
ist so unnötig wie ärgerlich. Richtig ist, dass es Wissen gibt, das nicht
unmittelbar «anwendbar» und handlungswirksam ist. Wer das allerdings für
problematisch hält, sollte besser nicht im Bereich der Schule wirken.
Roland Reichenbach ist Professor für allgemeine
Erziehungswissenschaft an der Universität Zürich. Er ist Präsident der
Schweizerischen Gesellschaft für Bildungsforschung und lebt in Basel.
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