Lange galten Hausaufgaben als unverzichtbar. Jetzt schaffen immer mehr Schulen sie ab. Doch einig sind sich die Fachleute nicht: Markus Buholzer (56) hat erwachsene Kinder und ist Rektor an der Volksschule Kriens LU, die die Hausaufgaben 2018 abschaffte. Samuel Zingg (40) vom Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz hat zwei Kinder im Primarschulalter. Er unterrichtet Mathematik und Französisch an der Oberstufe in Mollis GL, wo Hausaufgaben noch verteilt werden.
Die Qual nach der Schule - Hausaufgaben sind je länger je umstrittener, St. Galler Tagblatt, 11.2. von Stefan Müller
Herr Buholzer, seit
zwei Jahren hat Ihre Schule in Kriens die Hausaufgaben aufgegeben. Warum?
Markus Buholzer: Wir wollten
das Lernen der Schülerinnen und Schüler besser fördern, was ja ein wichtiger
Auftrag der Schule ist. Wir sind zur Auffassung gelangt, dass die klassischen
Hausaufgaben hierfür nichts bringen. Hausaufgaben unterstützen das Lernen
ungenügend. Wir bieten stattdessen «Lernzeiten» an, wo selbstständiges Lernen
möglich ist, während des Unterrichts und auch ausserhalb.
Herr Zingg, Sie
sind Verfechter von Hausaufgaben…
Samuel Zingg: Ja, aber von «guten». Hausaufgaben sollen einen Wert haben, indem sie im Unterricht wieder aufgenommen werden. Wenn es um das Üben von neuem Stoff geht, will ich dabei sein. Dafür bin ich ausgebildet. Hingegen «Automatisierungen» wie zum Beispiel Fremdsprachen-Vokabeln oder Kopfrechnungen wie Reihen einprägen, können gut zu Hause stattfinden, täglich fünf Minuten für Vokabeln und zehn Minuten für Mathe. Oder dem Grossmami einen Französischtext vorlesen oder für die Geometrie zylindrische Gegenstände in der Wohnung suchen.
Herr Buholzer, wie
geht das ohne Hausaufgaben?
Markus Buholzer: Kinder lernen
immer und überall! Unsere Aufgaben haben wir eben in unsere «Lernzeiten»
verlagert. Wir bieten Lernphasen an, wo die Kinder selbstständig an ihren
Themen arbeiten können. In jenen Lernzeiten ausserhalb des Unterrichts, die
freiwillig sind, werden sie ebenfalls begleitet. Gedacht sind diese für alle,
aber insbesondere für Kinder, die zu Hause kein passendes Lernumfeld haben. Das
fördert die Chancengleichheit. Die Kinder lernen so auch ohne «Ufzgi», an einer
Sache dranzubleiben und sich die Zeit selber einzuteilen.
Schafft das nicht
wieder neue Ungerechtigkeiten, weil die einen die Lernzeiten nutzen müssen, um
weiterzukommen?
Markus Buholzer: Nein, die Lernzeiten werden von vielen intensiv genutzt und empfinden sie nicht als Last.
Samuel Zingg: Sind das dann
aber nicht auch wieder eine Art Hausaufgaben? Mir stellt sich ausserdem die
Frage, ob diese Lernzeiten für die Schülerinnen und Schüler auch Druck schaffen
könnte im Sinne von: «Wenn du das Angebot nicht nutzest, bist du selbst schuld!»
Markus
Buholzer: Druck machen eher die Eltern! Die Kinder können gut damit umgehen.
Prüfungsvorbereitungen
sind traditionell meist Teil der Hausaufgaben. Wie bereiten sich Kinder vor in
einer Schule ohne Hausaufgaben?
Markus
Buholzer: Die Prüfungen werden bei uns ebenfalls in den Lernzeiten vorbereitet.
Wir räumen jedoch mehr Vorbereitungszeit als früher ein. So kündigen wir die
Prüfungen und Tests schon zum Beginn einer Lerneinheit an. Mit Erfolg, ein
Leistungseinbruch trat nicht ein mit dem Wegfall der Hausaufgaben.
Samuel Zingg: Und jene
Kinder, die die freiwilligen Lernzeiten nicht nutzen, bereiten sich wohl wie
früher zu Hause auf die Prüfungen vor, nehme ich an? Das sind dann im Prinzip
auch wieder Hausaufgaben, man nennt es einfach nicht mehr so.
Markus
Buholzer: Aber sie müssen nicht. Sie können die von einer Lehrerin oder Lehrer
begleitete Lernzeit dafür nutzen.
Samuel Zingg: Begleitete
Zeit für Hausaufgaben und um für Prüfungen zu lernen, bieten wir auch.
Die
Hausaufgaben-Diskussion gewinnt auch im Zusammenhang mit dem wegen der Pandemie
erneut drohenden Fernunterricht an Aktualität. Kann man sagen, dass eine Schule
mit Hausaufgaben generell besser für den Fernunterricht gewappnet ist?
Samuel Zingg: Nein. Es sind
mehrere Faktoren, die da hineinspielen, und die Hausaufgabenpraxis hat da
sicher keinerlei Einfluss. Anhand der Hausaufgaben kann man aber zum Teil
darauf schliessen, bei welchen Schülerinnen und Schülern es eher klappen könnte
und wo nicht.
Markus Buholzer: Entscheidend
ist doch, dass Schülerinnen und Schüler eine Lernstrategie haben. Wir haben
klare Hinweise, dass Kinder mit Lernzeiten, aber ohne Hausaufgaben
organisierter und selbstständiger unterwegs sind als vorher. Darum gehen wir
davon aus, dass sie während des Fernunterrichts gut arbeiten können.
Und was ist mit den
leistungsschwachen Kindern?
Markus Buholzer: Für solche
Kinder ist der Fernunterricht zweifellos ein Problem. Ihre Lernstrategien sind
zu Hause oft zu wenig tragfähig.
Samuel Zingg: Das sehe ich
auch so! Vor allem aber auch, wenn Kinder zu Hause keine ruhige Ecke zum
Arbeiten finden, weil etwa daneben noch kleine Geschwister betreut werden
müssen. Vielleicht gibt es auch nur einen Laptop im Haus. Dann bringt der beste
Videochat nichts.
Wie macht man guten
Fernunterricht?
Markus Buholzer: Die Inhalte
müssen lebensnah und interessant sein – egal ob im Schulzimmer oder zuhause.
Wichtig ist es, dass die Kinder die Aufgaben möglichst ohne elterliche Hilfe
erledigen können.
Samuel Zingg: Es braucht
auch einen abwechslungsreichen, rhythmisierter Unterricht mit Aufgaben, die
nicht nur abgehakt oder abgeschrieben werden können. Und die Beziehung zum
Lehrer ist zum Lernen zentral. Dem Videochat oder dem Telefon kommt deshalb
grosse Bedeutung zu. Und das ist auch der anspruchsvollste Teil am
Fernunterricht.
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