9. März 2019

Vom Anpassungssyndrom zum Mainstream-Gehorsam?

Warum zögern viele Menschen, ihre Meinung zu sagen, wenn diese sich im Gegensatz zum Mainstream befindet? Warum schweigen wir im Freundes- und Kollegenkreis, wenn wir anderer Meinung sind? Neben vielen anderen Anregungen liefert Allan Guggenbühl in seinem Buch «Für mein Kind nur das Beste» auch interessante Denkanstösse zu dieser Frage, indem er den Begriff des Anpassungssyndroms aus der Stressforschung auf die heutige Erziehungswirklichkeit überträgt und damit Aspekte der Erziehung zur freien Meinungsäusserung erklärt.

Buchbesprechung "Für mein Kind nur das Beste" (Allan Guggenbühl), Zeit-Fragen,  29. 3., von Marita Koch
 
«Das Anpassungssyndrom»
Guggenbühl beschäftigt sich mit dem «Anpassungssyndrom» von seinen natürlichen und notwendigen Formen bis hin zu seinen problematischen Seiten, auch bei Erwachsenen. Anpassung, so führt er aus, ist im Prinzip lebensnotwendig. Empathie ist die Fähigkeit, das Gegenüber einfühlend zu verstehen. Das Kind lernt seine Bezugspersonen zu verstehen, zu erkennen, was die Eltern von ihm erwarten. Es handelt zunächst nicht auf Grund von sachlichen Überlegungen und rationaler Einsicht, sondern es passt sich den Erwartungen der Eltern an, weil es sie liebt, weil es von ihnen lernt, wie man leben kann, weil es mit ihnen in Harmonie sein möchte. So wird es ein konstruktives Mitglied der Familie, der Gemeinschaft.

Guggenbühl führt aus, dass Kinder manchmal auch Strategien entwickeln, wie sie die Eltern beeinflussen können, um gewisse Ziele wie z. B. Aufmerksamkeit oder Anerkennung zu erreichen. Sie wissen, was diese gerne hören, also reden sie ihnen «nach der Zunge, um sie zu vereinnahmen».1 «Die Kehrseite der Empathie ist Täuschung», meint Guggenbühl. «Geschickte Kinder merken intuitiv, welche Worte man einsetzt, wie man auftreten muss, um sich gegenüber den Erwachsenen durchzusetzen.»2 Viele Eltern, so schreibt Guggenbühl, würden die Täuschungsmanöver ihrer Kinder nicht bemerken, sondern ihnen alles abnehmen. Doch gibt es in Familien ein Korrektiv: der Streit, meint Guggenbühl. Dabei komme vieles auf den Tisch, was sonst nicht ausgesprochen wird, «die Masken werden abgelegt».3 In der Familie seien solche Streitigkeiten nicht gefährlich. Weil Eltern und Kinder eng miteinander verbunden sind, finde man sich wieder. 

Problematischer ist das in der Schule. Hier drohen Verwarnungen, Einträge ins Zeugnis, Timeout oder eine Diagnose mit der Aufforderung, eine Therapie zu besuchen. An dieser Stelle geht Guggenbühl nicht auf den Umgang der Schule mit solchen Problemen ein, benennt nur kurz die üblichen Massnahmen. 

Problematische Seiten des Anpassungssyndroms
Selbstverständlich brauchen wir auch als Erwachsene noch Empathie, um Gemeinschaften harmonisch zu gestalten. Problematisch wird es aber, wenn wir auch dann nicht aus dem Anpassungsmodus finden, wenn wir als Mitgestalter gefordert sind, Sachprobleme zu lösen, sei es auf der Arbeitsstelle, in der Gemeinde, im Verein, im Staat. Wenn wir nicht fähig sind, uns eigenständig und mutig, nach rationalen Erwägungen in die vielfältigen Lebensräume unseres Alltags einzubringen. Wenn wir um der Harmonie willen oder um nicht anzuecken, keinen Streit zu provozieren, nur nach dem Mund reden oder schweigen. Guggenbühl beschreibt plastisch die Situation an vielen Arbeitsstellen: «Gleichheit wird vorgespielt, ein betont jovialer Umgangston gepflegt und die Hierarchien werden flach gehalten, der Chef ist mit allen Mitarbeitenden per Du, stösst beim Apéro auf die Festtage an und unterhält sich bestens mit ihnen über scheinbar Privates, die Kinder, Ferien und Hobbies. Niemand weiss jedoch, wie Entscheidungen gefällt und die eigenen Leistungen beurteilt werden. 

Wenn nicht klar ist, wer wo die Macht innehat, kann eine forcierte Anpassung die Folge sein. Man fügt sich der Betriebskultur aus Angst, einen Fehltritt zu machen und die eigene Position zu gefährden. Sorgfältig tastet man ab, welche Themen en vogue sind und wie man mit möglichen Entscheidungsträgern umgehen muss. Inhaber hoher Positionen realisieren oft nicht, dass sich ihre Untergebenen maskieren und sie selber in einer Blase leben. Die Angestellten lachen herzlich bei ihren Witzen, loben ihre Ideen und geben sich betont cool. Effektiv sind sie jedoch auf der Hut. Was sie wirklich von der Arbeit, der Firma oder ihren Chefs denken, wagen sie nicht mitzuteilen.»4
 
Wem gehen da nicht viele Situationen durch den Kopf? Ein Beispiel: Die Situation in vielen Lehrerzimmern vor der Abstimmung zum Lehrplan 21 war schneidend: Man hat schnell gemerkt: Kritik war nicht erwünscht und sogar ausdrücklich untersagt. Sich in einer solchen Situation in Gegensatz zu setzen, brauchte zum Teil Heldenmut und war auch vielleicht nicht immer sinnvoll. Doch die Folge: Man lässt diskussions- und kritiklos eine endlose Folge von «Informationsveranstaltungen» und Fortbildungen über sich ergehen. Wenn der Anpassungsmodus herrscht, ist «Scheinheiligkeit Usus und Vorsicht geboten».5 Abgesehen davon, dass solche Abläufe einer Gemeinschaft von erwachsenen Fachleuten unwürdig sind und alle Beteiligten schwächt, kann so auch nicht die dringend notwendige Sachdiskussion zustande kommen. «Die Schulleitung erfährt nicht, dass die Mitarbeiter einer Reform kritisch gegenüberstehen.»6 Selbstverständlich sind solche Abläufe nicht nur Folge eines ängstlichen «Anpassungsmodus» der Mitarbeitenden, sondern vielfach fordern Vorgesetze oder auch «die herrschende Meinung» Unterwerfung. «Je höher die Bildungsstätte, desto mehr sind nur politisch korrekte Meinungen erlaubt: Wer die Ehrlichkeit der #Metoo-Bewegung infrage stellt, die Ursachen des Klimawandels hinterfragt, von Schülern statt SuS spricht, von Pennern redet, das Wort Studenten statt Studierende gebraucht, der macht sich verdächtig.»7
 
Achtung: Tätschelfalle!
Ein manchmal schwer zu durchschauender und noch schwerer zu durchbrechender Ausdruck des Anpassungsmodus sind Schmeicheleien. «Dominiert der Anpassungsmodus in einer Gruppe, dann droht das Wohlfühlgespräch zur Norm zu werden. An Sitzungen, Pausen, jedoch auch während der Arbeit reduziert sich der Inhalt der Kommunikation auf Lob und gegenseitige Bestätigungen, wie gut man es macht und wie nett man ist. Im Extremfall entsteht eine Tätschelkultur, die für Aussenstehende unerträglich wird. Das Lob wird als Strategie eingesetzt, um persönliche Auseinandersetzungen zu vermeiden. […] Das Lob dient als Nebelpetarde, um mögliche Kontroversen zu verhindern. Vorgespielte Begeisterung und positives Feedback neutralisieren Konfliktpunkte. […] Alle sind sorgfältig darauf bedacht, den Mainstream nicht zu verlassen.»8 Ich möchte hier gern noch die Bewunderung hinzufügen. Manchmal werden in einem Kollegium, einer Firma, einem Verein, eben einer beliebigen Gruppe von Menschen einer oder einige übermässig bewundert. Das führt dazu, dass man von den Bewunderten alles erwartet, jedes Wort ist richtig, jede Beurteilung oder Einschätzung ist sakrosankt. Ein solcher Anpassungsmodus ist der Tod jeder sachbezogenen Auseinandersetzung, der Entwicklung neuer Ideen, er verhindert, dass wichtige kritische Aspekte zur Kenntnis genommen und diskutiert werden. »Ist jemand im Anpassungsmodus, dann hat sich sein Denkhorizont verengt. Autonome Denkleistungen und ungewöhnliche Schlussfolgerungen sind nicht mehr möglich.»9
Wir können die problematischen, ja gefährlichen Folgen des Anpassungsmodus nicht hoch genug einschätzen. Diskussionslos hingenommene Reformen in Schulen und Universitäten10 führen zu einer Bildungskatastrophe, deren Ausmasse wir noch nicht absehen. Gemeinden verschulden sich oft mit Prestigebauten, vorzugsweise Turnhallen, weil zu wenige sich getrauen, diese Projekte zu hinterfragen. In der Wirtschaft führt der Anpassungsmodus zu Missmanagement, wie jenes, welches das Grounding der stolzen Swissair verursachte oder zu 300 Millionen Franken Schaden führte infolge der Misswirtschaft von Pierin Vincenz bei der Raiffeisen-Bank. Viele Verantwortliche haben in vorauseilendem Gehorsam alles gestützt, was er wollte.11 Wenn wir weiterdenken, sehen wir, dass der Anpassungsmodus auch an Kriegen nicht unbeteiligt ist. Deshalb stellt sich dringend die Frage: Wie kommen wir da raus? Und was stellt sich als Alternative? Ist es der Streit, wie Guggenbühl ihn als Lösung für Familien vorschlägt? Oder wie könnte eine konstruktive Auseinandersetzung in einer Zivilgesellschaft aussehen, bei der man sich auch finden kann? Die Schweiz hat da eigentlich gute Ansätze entwickelt. 

«Ich habe gesprochen»
In der Gemeindeversammlung hat jeder das Wort, der sprechen möchte. Er äussert sich zur Sache, ohne auf die Person zu zielen und ohne Diffamierung von anderen. Man spricht so, dass man sich nach erfolgter Debatte und Abstimmung noch in die Augen sehen kann und den Gegner achtet, auch wenn man ganz anderer Meinung ist als er. Könnten wir hier nicht wieder anknüpfen und von da aus neues Bürgerbewusstsein auf allen Ebenen schaffen? Beeindruckend finde ich in diesem Zusammenhang die Gelbwesten, wie Diana Johnstone sie in dieser Ausgabe beschreibt: Sie lassen sich nicht mit billigen Ködern abspeisen, fallen nicht auf fragwürdige «Kommunikationsangebote» herein, bestehen auf Initiative und Referendum. Sie haben offensichtlich keinen Führer, der ihnen sagt, was sie zu denken haben, und kein Evangelium, dem sie folgen. Beeindruckend die Besonnenheit: Wenn man Johnstone folgt, wenden sie keine Gewalt an, bleiben aber beharrlich in ihrem Anliegen und ihrer Präsenz. Sie wollen das, was uns Bürgern im 21. Jahrhundert zusteht: Sie wollen ihr Leben und ihr Land selbst bestimmen. 

Für die Pädagogik ist auch zu überlegen: Wie werden aus Kindern und Jugendlichen Bürger, die nicht infolge eines problematischen Anpassungsmodus alles mitmachen? Sicher gehört dazu, dass wir sie ernst nehmen und mit ihnen, vor allem mit den Jugendlichen, ernsthaft diskutieren. Es darf nicht sein, dass wir sie bereits an manipulative Kommunikationsstrategien gewöhnen. Guggenbühl meint z. B.: «Gefahr droht paradoxerweise bei Settings, welche die Verantwortung des Lernprozesses an die Kinder und Jugendlichen delegieren. […] Aus der Sicht des Kindes handelt es sich hier um einen macchiavellistischen Schachzug. Sie [die Kinder und Jugendlichen] wissen genau, dass es die Erwachsenen sind, die das Sagen haben, über richtig und falsch entscheiden und ihre Leistungen beurteilen. […] Daher schalten viele Kinder und Jugendliche auf Anpassungsmodus und verzichten auf kritische Äusserungen. […] Man erledigt die Aufgabe, ohne sich vertieft mit dem Inhalt auseinanderzusetzen, sondern repliziert die Erwartungen, die man annimmt.»12

Das ist ziemlich genau dasselbe, wenn Erwachsenen gesagt wird: «Eure Meinung ist uns wichtig»13 und in Wirklichkeit jedem klar ist, dass es gefährlich ist, Widerspruch zu äussern.
Die Aufgabe bleibt: Was heisst ernst nehmen von Kindern und Jugendlichen?

1    Guggenbühl, Alain. Für mein Kind nur das Beste. 2018, S. 89
2    ebd. S. 89
3    ebd. S. 91
4    ebd. S. 93f.
5    ebd. S. 94
6    ebd. S. 94
7    ebd. S. 96
8    ebd. S. 99f.
9    ebd. S. 100
10    Es gab und gibt natürlich immer wieder aufrechte, klar denkende Bürger, die sich den Mund nicht verbieten lassen und zum Beispiel in Initiativkomittees tätig werden.
11    Charlotte Jaquemart, Wirtschaftsredakteurin SRF, kommt in einer Untersuchung zu folgender Einschätzung: Vernichtend ist der Bericht Gehrig auch für den ehemaligen Verwaltungsratspräsidenten Johannes Rüegg-Stürm: Ohne dass der St. Galler Professor und Spezialist für Corporate Governance namentlich erwähnt ist, wird klar, dass der Verwaltungsrat unter ihm Pierin Vincenz zu keinem Moment überwacht hat. Auch hat es der Verwaltungsrat verpasst, die Bank mit organisatorischen Massnahmen und entsprechenden Richtlinien für all die Zukäufe fit zu machen. Mitschuldig am teuren Raiffeisen-Debakel sind aber auch all die Ja-Sager in der Geschäftsleitung – inklusive Ex-CEO Patrik Gisel – die es allesamt nicht geschafft haben, Pierin Vincenz zu widersprechen. In vorauseilendem Gehorsam taten die Mitarbeiter das, von dem sie wussten, dass Vincenz es wollte. In: Raiffeisen-Untersuchung. Ein vernichtendes Fazit. 22.1.2019
12    ebd. S. 97
13    Guggenbühl, Allan. In: Einspruch 2, 2019, S. 47

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