4. Februar 2019

Basisschrift entlastet Arbeitsgedächtnis


Vor 10 Jahren ersetzte Luzern die «Schnürlischrift» mit der Basisschrift. Mittlerweile wird sie in der ganzen Deutschschweiz eingesetzt. Die Schöpfer der neuen Schulschrift wurden vom eigenen Erfolg überrumpelt. 
Wie Luzern mit dieser Schrift Schule machte, Zentralschweiz am Sonntag, 27.1. von Ismail Osman
 

Es ist eine Luzerner Erfolgsgeschichte: In Sachen Handschrift wurde von hier aus eine neue Ära eingeläutet. Mittlerweile blickt man gar von Deutschland interessiert hinüber auf diesen neuen Weg, den Luzerner Lehrerinnen und Lehrer sowie Forscherinnen und Forscher der hiesigen Pädagogischen Hochschule (PH) vor rund 10 Jahren aufzeigten. 

Aber der Reihe nach: «Ich finde immer noch, dass es eine sehr schöne Schrift ist», sagt Josy Jurt Betschart. Die PH-Dozentin spricht dabei von der Schweizer Schulschrift. 1946 eingeführt, wurde sie schon bald umgangssprachlich «Schnürlischrift» genannt. 

Ironischerweise ist Jurt direkt mitverantwortlich, dass die Schnürlischrift aus den Deutschschweizer Klassenzimmern verbannt wurde. Josy Jurt erklärt: «Die Schnürlischrift ist schön, aber das alte System war eigentlich eine Überforderung. Kaum hatten die Kinder nach der ersten Klasse die Steinschrift beziehungsweise Blockschrift halbwegs im Griff, mussten sie nochmals eine ganz neue Schrift erlernen.» Dieser Umstand wurde in Lehrer- und Hochschulkreisen schon seit Jahrzehnten diskutiert. In Luzern begann man nach Alternativen zu suchen. «Ein Lehrer, der erstberuflich im grafischen Gewerbe arbeitete, rief mich eines Tages an und sagte: ‹Du, ich glaube, ich hätte da eine Schrift›», erinnert sich Jurt. Konkret war der Berufskollege auf die «Basisschrift» des renommierten Zürcher Typografen Hans Eduard Meier (1922–2014) gestossen. 

«Alternative» findet gewaltigen Anklang
«Das Potenzial der Schrift erkannten wir sofort: Mit ein paar Anpassungen hätte man hier eine Schrift, die man zunächst als einzelne Buchstaben erlernen und später, fast nach Belieben, verbinden kann, ohne die Buchstaben verändern zu müssen.» So entstand, auf dem Fundament von Meiers Design, die «Luzerner Basisschrift». 2006 wird sie in den Luzerner Lehrplan aufgenommen – als Alternative zur Schweizer Schulschrift. «Die Resonanz war gewaltig», staunt Josy Jurt noch heute. Jurt ist, neben ihrer Anstellung bei der PH, Bereichsleiterin Unterricht bei der Dienststelle Volksschulbildung des Kantons, wo sie für die Primarstufe zuständig ist. «2009 lernte bereits mehr als die Hälfte aller Kinder in der 1. Klasse die Basisschrift.» Dass die neue Schrift gleich in diesem Ausmass Anklang finden würde, überraschte: «Es bestand zu Beginn ja noch gar kein Lehrmittel, an dem sich die Lehrpersonen orientieren könnten», sagt Jurt mit einem Schmunzeln. «Zudem haben wir am Anfang dem Verbinden zwischen den Buchstaben zu wenig Beachtung geschenkt.» Orientierung suchten die Lehrerinnen und Lehrer aber nicht zuletzt auch wegen dieser Eigenheit der Basisschrift: Tatsache ist, dass die Zeichen getrennt geschrieben werden und die Verbindungen zwischen den Buchstaben dort gemacht werden können, wo sie sich aus dem Schwung heraus ergeben. Zum einen bedeutet dies, dass jedes Schulkind daraus seine ganz persönliche Handschrift entwickeln kann. Zum anderen gibt es in Bezug auf die Schreibweise kein klassisches «richtig» oder «falsch» mehr. 

Die Forschungsgruppe «Sprachen und Schrift» der PH Luzern konnte durch die Forschung von Sibylle Hurschler, PH-Dozentin für Psychomotorik und Grafomotorik, die Vorteile der Basisschrift nachweisen, so Jurt. Sie und Hurschler wurden anschliessend damit beauftragt, ein Lehrmittel auszuarbeiten, das 2011 erstmals erschien. Seit 2012 ist die Basisschrift in Luzern nicht mehr eine Alternative, sondern verbindlich. 

Die Vorgänge in Luzern sprachen sich schnell herum. 2014 empfahlen die Deutschschweizer Erziehungsdirektoren, das Luzerner Modell für die gesamte Sprachregion zu übernehmen. Seither heisst sie «Deutschschweizer Basisschrift». 

Entlastung für das Arbeitsgedächtnis
Was genau ist aber das Geheimnis der Basisschrift? «Sie hat einfache Bewegungsabläufe und klare Formen, die persönliche Nuancen zulassen. So können die Kinder leserlich und bald geläufig schreiben, was das Automatisieren unterstützt.» Dies wiederum entlaste das Arbeitsgedächtnis. «Es ist wie beim Velofahren. Je automatisierter Balance und Tretbewegungen sind, umso mehr kann ich mich auf den Verkehr konzentrieren. Mit dem Schreiben ist es dasselbe: Je weniger ein Kind überlegen muss, wie ein Buchstabe aussieht, desto mehr kann es sich auf den Inhalt des Geschriebenen konzentrieren.»
Die Debatte um die Schulschrift wird auch in Deutschland geführt. So referierte gestern Eva Odersky von der Ludwig-Maximilians-Universität München an der PH Luzern zur Frage «Kommt es wirklich auf das Verbinden an?». Bei den Diskussionen im Nachbarland fällt deren Blick unweigerlich auf das, was die Schweizer – genauer gesagt die Luzerner – da erfunden haben.

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