Tweedsakko, Hemd, Lesebrille. Alain Pichard ist unschwer als
Lehrer zu erkennen, auch in diesem ungewohnten Umfeld: Es ist Projektwoche, die
Oberstufenklassen von Orpund BE schmeissen für ein paar Tage den Hotel- und
Bistrobetrieb der Lago Lodge am Bielersee. Schüler hinter der Bar, Schüler in
der Küche, Schüler bei der Zimmerreinigung.
Pichard macht
nicht nur seine Zöglinge fürs Berufsleben fit. Seit geraumer Zeit hält er auch
die kantonalen Bildungsdirektoren auf Trab. Er ist eine Galionsfigur,
gewissermassen der Thomas Minder der Lehrplankritiker: Er hat jenen Kampf
angezettelt, der heute in fast allen Deutschschweizer Kantonen ausgefochten
wird. Auf der Strasse. In den Ratssälen. An der Urne: Die Stimmberechtigten in
den Kantonen Zürich und Bern entscheiden Anfang März über Initiativen, die ein
Volksveto für Lehrpläne fordern. In Graubünden steht ebenfalls eine Abstimmung
bevor. Andernorts hat das Volk bereits entschieden, doch das Thema brodelt
weiter. Und alles wegen ihm.
Alain Pichard schwärmt von Jean-Marie Condorcet, Bild: Oliver Oettli
Der Kämpfer legt eine Pause ein, Berner Zeitung, 14.2. von Christoph Aebischer
«Es war eine Trotzreaktion», sagt Pichard rückblickend. 2013
konnte er mit Berufskollegen erstmals einen Blick in den hinter verschlossenen
Türen erstellten Lehrplan 21 werfen. Ein 557 Seiten starkes Dokument, das 4500
Kompetenzen vermerkt, die sich die Kinder künftig in der Schule aneignen
sollten. Die Lehrer waren bestürzt. Als sie den Erziehungsdirektoren ihre
Bedenken meldeten, erhielten sie nur einen Rüffel: Sie sollten sich gefälligst
an den Dienstweg halten. Da eskalierte die Sache.
Pichard
lancierte mit Freunden einen Lehrerprotest. Er schrieb scharfzüngige Kolumnen,
polemisierte an Podien. Stets richtete sich sein Zorn gegen die
«Bildungsbürokraten» – jene, die über die Volksschule entscheiden, obwohl es
ihnen an Praxis im Klassenzimmer fehlt. Bald schlossen sich ihm Kreise an, die
eine andere Agenda verfolgen. Evangelikale, Sexualkundegegner, Volksrechtler.
Die Bündner Lehrplangegner werden mit der inzwischen aufgelösten Psychosekte
VPM in Verbindung gebracht.
Einige
Mitstreiter zogen sich aus Angst vor politischer Vereinnahmung zurück – nicht
so Pichard. «Ich habe keine Berührungsängste», sagt er. Erst als ihn die SVP
als Redner einspannen wollte, winkte er ab. Er sieht auch heute kein Problem
darin, dass die Motive der Lehrplankritiker zum Teil arg auseinanderklaffen.
Entnervter
Schuldirektor
Pichard ist
streiterprobt: Lehreranstellungsbedingungen, Schülerbeurteilung, Förderung und
Integration von Ausländerkindern, die ausufernde Betreuung durch Spezialisten,
die teure Vorverlegung des Fremdsprachenunterrichts – immer stand Pichard mit
auf den Barrikaden.
Widerstand
liegt in seinem Wesen: «Als Schüler gehörte ich dem Schülerrat an, in der Armee
dem Soldatenkomitee und als Lehrer der Lehrergewerkschaft», erzählt er.
Pichard, 62-jährig, mischt sich ein und klopft der Obrigkeit auf die Finger.
Selbst wenn es seinen Vorgesetzten zu viel wird.
Gegen die
«Kuschelpädagogik»
So geschehen
in Biel im Jahr 2010. Damals sass er für die Grünliberalen im Stadtparlament
und unterrichtete an einer Bieler Schule mit hohem Ausländeranteil. Pichard
prangerte die «Kuschelpädagogik» der Stadt an: Damit würden keine Probleme
gelöst. Man wollte ihn mit einer Kommunikationsvereinbarung zurückbinden.
Pichard kündigte seine Stelle, ging im Streit und unterrichtet seither in der
Nachbargemeinde Orpund.
Das Mandat im
Stadtparlament von Biel – in den Reihen der GLP – jedoch behielt er bis Ende
2016. Der damalige Bieler Schuldirektor meinte in der lokalen Presse entnervt:
«Herr Pichard hat seine eigene Wahrnehmung.» Dessen Überlegungen hätten die
Bieler Schulpolitik nicht weitergebracht. Nicht alles sei so schlimm, wie
Pichard es sehe.
Woher dieser Drang zum Revoluzzen rührt? Schwierig zu sagen. Im
Gespräch am Bistrotisch an diesem nebligen Tag am Bielersee ist davon wenig zu
spüren. Mit seinen Schülern geht es offensichtlich auch, ohne dass die Fetzen
fliegen. Sie wissen, was zu tun ist.
Entspringt
der Kampfgeist seiner kommunistischen Vergangenheit, oder ist er doch eher
Ausdruck eines störrischen Walliser Naturells? Pichard wurde in Saint-Maurice
VS geboren und wuchs in Basel auf. Er selber sagt – in Basler und nicht in
Walliser Mundart –, die Erklärung sei in seiner gewerkschaftlich geprägten
Familie zu suchen. Man habe zu Hause immer debattiert. Diese Kultur lebe am eigenen
Familientisch mit Frau und Kindern fort.
Allenfalls
lässt eine vor Jahresfrist verfasste Kolumne etwas tiefer blicken. Dort
schwärmt Alain Pichard von Jean-Marie Condorcet, der im 18. Jahrhundert als
libertärer Geist wider die «Tyrannei des Denkens» und gegen Indoktrinierung
gestritten hat. Am Ende bezahlte dieser Revolutionär seine Überzeugungen mit
dem Tod.
«Es muss
sein, wie es ihm passt»
So weit
würden Pichards Widersacher nicht gehen. Aber auch unter ihnen kommen längst
nicht alle mit seiner unerbittlichen Art zurecht. Eine ehemalige Weggefährtin
Pichards aus der Zeit, als dieser noch bei den Grünen politisierte, ist Anna
Maria Hofer. Sie schätzt ihn als Lehrer. Aber als Präsidentin der lokalen
Parteisektion störte sie, wie er zuweilen Leute vor den Kopf stiess. Viele
seien seinem rhetorischen Talent schlicht nicht gewachsen gewesen. «In meiner
Erinnerung kämpfte er nicht für, sondern meist gegen etwas – und oft genug
gegen Personen.» Er habe nicht lockerlassen können. «Es musste so sein, wie es
ihm passte.»
Ihm sei
bewusst, dass er im Feuer des Disputs andere diskreditiere, sagt Alain Pichard.
In der Sache – und nur darum gehe es ihm, betont er – findet er jedoch oft
Anerkennung. Walter Herzog, emeritierter Professor für pädagogische
Psychologie, teilt die Lehrplanskepsis. Er ist froh um Lehrer wie Pichard und
findet es schade, dass es nicht mehr Lehrkräfte gibt, die wie er das Wort
ergreifen.
Ebenso wenig
hat Bernhard Pulver, Erziehungsdirektor des Kantons Bern, gegen engagierte
Lehrer. Selber ein pragmatischer Grüner, nimmt er für sich in Anspruch, der
Sache der Lehrerinnen und Lehrer verpflichtet zu sein. Pulvers Pech ist, dass
Pichard in Chefs fast nur Kontrahenten sieht. Pulver lud ihn zu Gesprächen
unter vier Augen ein, um seine Einwände besser zu verstehen. Die beiden blieben
sich aber fremd. Ist Pichard jemand, der einfach Freude am Zündeln hat und sich
am lodernden Feuer freut, das er entfacht? Pulver schweigt. Er will sich nicht
äussern zu seinem ärgsten Gegenspieler.
Eine
Überraschung
Dabei ist
Pichard dieser Tage auffallend leise – obschon in Zürich und Bern der Showdown
zu den Lehrplanabstimmungen naht. Hat ihn der Mut verlassen? Zweifelt er? Ist
er müde? Mitnichten, sagt Pichard. Er werde der Lehrplaninitiative
selbstverständlich zustimmen. Es sei wichtig, dass man Grundsatzfragen an der
Urne entscheide. «Sonst machen sie, was sie wollen.» Aber letztlich stehe für
ihn ein Abstimmungssieg gar nicht im Zentrum. Die bisherigen Debatten hätten
bereits viel bewegt. Und überhaupt: «Die Schule wird diesen Lehrplan
überleben.»
Pichard arbeitet auf ein grösseres Ziel hin. Im Mai will er die
Anti-Lehrplan-Bewegung als fixe Plattform etablieren. Man wolle, dass die
inhaltliche Debatte weitergehe. Die Volksschule dürfe nicht einer
wirtschaftlichen Logik geopfert werden. Im Zentrum müsse die Bildung und nicht
einfach Ausbildung stehen, sagt Pichard.
Er selbst
will sich aber bald zurückziehen. In drei Jahren geht Alain Pichard, dem auch
seine ärgsten Gegner hohe Kompetenz als Lehrer attestieren, in Pension. «Danach
werde ich mich nicht mehr in die Belange der Schule einmischen.» Der Schule
geht damit nicht nur ein guter Lehrer verloren, sondern auch ein hartnäckiger Kritiker.
Der eine wird schmerzlich fehlen, der andere ebenfalls – wenn auch nicht allen.
Ich kenne Alain Pichard und von einer Pause, wie es der Titel des Artikels suggeriert, kann bei ihm keine Rede sein.
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