Tausende
von Eltern – und vielleicht auch deren Kinder – dürften am Mittwoch aufgeatmet
haben: Er ist Legastheniker und trotzdem holte der Romand Jacques Dubochet den
Nobelpreis für Chemie. Nobelpreise bekommen doch nur die klügsten Köpfe der
Welt und nicht solche, die sich einst durch die Schule haben kämpfen müssen. Aber
offenbar ist eine ausgeprägte Lese- und Rechtschreib-Schwäche, wie sie auch bei
Dubochet im Alter von 13 Jahren diagnostiziert worden ist, kein Hindernis, um
am Ende der Karriere die höchsten akademischen Ehren zu erhalten.
"Legasthenie ist kein Hindernis für eine Karriere", Nordwestschweiz, 6.10. von Sabine Kuster
Obwohl
Dubochet viele Jahre in Heidelberg geforscht hat, spricht er nur wenig Deutsch.
Er habe ein sehr schlechtes Gedächtnis und enorme Schwierigkeiten gehabt, sich
deutsche Wörter zu merken, sagte Dubochet gegenüber dem «Tagesanzeiger». «Aber
ich musste lernen damit umzugehen und kreativ sein.» Glück hatte Dubochet wohl
auch, denn zuerst stand ihm ein Sekundarlehrer bei, dann suchten seine Eltern
immer wieder eine neue Kantonsschule, bis er schliesslich in Trogen AR die
Matur machen konnte.
Auch
später musste er sich durch unzählige Texte kämpfen und viele selbst schreiben.
Bérénice Wisard, Logopädin im Kanton Freiburg und Vorstandsmitglied des
Deutschschweizer Logopädinnen- und Logopädenverbandes, erklärt, wie das sein
kann.
Frau Wisard, überrascht es Sie, dass einer
mit Legasthenie einen Nobelpreis bekommen kann?
Bérénice
Wisard: Nein, es überrascht mich nicht. Die Lese-Rechtschreib-Stö- rung ist
kein Hindernis für eine naturwissenschaftliche Karriere und auch grundsätzlich
für keine andere Karriere.
Hat Legasthenie mit Intelligenz zu tun?
Nein,
auch sehr intelligente und hochbegabte Leute können eine
Lese-Rechtschreib-Schwäche haben.
Ein Handicap ist es aber schon?
Das
kann es sein. Aber wenn man Kompensations-Strategien lernt, kann es sein, dass
die Schwäche im Alltag von anderen gar nicht bemerkt wird.
Das haben uns auch zwei Forscher-Kollegen
gesagt: Sie wussten nicht, dass Dubochet Legastheniker ist. Welche Strategien
haben die Betroffenen denn?
Sie
können sich beispielsweise einen Text in kleine Päckchen einteilen und nicht
alles aufs Mal lesen. Beim Schreiben helfen natürliche Rechtschreibeprogramme
und beim Vorlesen ist es wichtig, dass sich Legastheniker Zeit nehmen.
Was aber, wenn das nicht reicht, gerade in
der Grundschule? Dubochets Karriere hätte gar nicht erst begonnen, wenn er die
Matur nicht geschafft hätte.
Lese-Rechtschreib-Schwächen
sind heute anerkannte Störungen für die ein Schüler Anrecht auf einen
Nachteilsausgleich in der Schule hat. Das kann bedeuten, dass ein solcher
Schüler mehr Zeit für eine Aufgabe erhält oder den Computer benützen darf. Und
dann können solche Schü- ler, die in Mathematik, Biologie oder eben Chemie gut
sind, ohne weiteres eine Kantonsschule besuchen. Sie müssen ihr Handicap
einfach ein Stück weit kompensieren können.
Zur Schulzeit von Jacques Dubochet gab es für
Legastheniker noch keinen Nachteilsausgleich. Da halfen nur hartnäckige Eltern,
oder?
Ja,
oder engagierte Lehrpersonen.
Machen Legastheniker öfter einen Umweg und
kommen später zum Erfolg?
Das
weiss ich nicht, ich kann nicht sagen, ob Schüler mit einer
Lese-RechtschreibStörung öfter die Berufsmatur machen, statt direkt ans
Gymnasium zu gehen. Es gibt den Nachteilsausgleich in einigen Kantonen auch an
Berufsschulen und Kantonsschulen.
Die Schwäche begleitet einen aber auch nach
der Schulzeit. Ist es nicht doch erstaunlich, dass Dubochet es danach geschafft
hat, inklusive Doktorarbeit?
Das ist
individuell verschieden und es hängt auch von der Persönlichkeit ab, wie man
damit umgeht. Ausserdem von Faktoren wie Aufmerksamkeit, Verhalten, Unterstützung
vom Umfeld, Lernstrategien, kognitive Fähigkeiten, Wahrnehmung. Da spielt viel
mit.
Kann sich eine Legasthenie auswachsen und
einen später weniger behindern? Es ist keine Krankheit, die man heilen muss,
drum reden wir nicht von auswachsen. Aber wenn man eine LegasthenieTherapie
hatte, kommt es oft zu einem guten Lesefluss. Dann ist meist nur noch das
Lesetempo ein Problem.
Ist es für einen Legastheniker auch ein
Problem, verständlich zu schreiben – abgesehen von der Orthografie?
Ja, das
hängt zusammen. Auch dafür brauchen die Betroffenen meist mehr Zeit und
Unterstützung. Aber es ist unterschiedlich, nicht allen, die Mühe im Schreiben
haben, fällt auch das Lesen schwer oder umgekehrt. Und nicht alle haben beim
Textverständnis Mühe. Nicht betroffen ist auf jeden Fall der mündliche
Ausdruck.
Sie können also gute Referenten sein?
Dubochet hatte an der Medienkonferenz einen sehr gewinnenden Auftritt.
Ja
genau, das ist kein Problem.
Haben Legastheniker besondere Stärken?
Nein,
das kann man nicht sagen. Die angebliche starke Kreativität, von der man früher
ausging, hat sich nicht bestätigt.
Aber die Strategien, die sich Legastheniker
aneignen, können auch sonst im Leben hilfreich sein?
Ja
sicher. Wenn man die Hilfe erhalten hat und sie sinnvoll fand.
Kann man sich die Strategien nicht auch
selbst beibringen? Herr Dubochet hat sich wohl irgendwie selbst helfen müssen.
Vielleicht
haben ihm seine Eltern unbewusst nützliche Strategien beigebracht. In meinem
Alltag sehe ich nicht, dass sich Schüler mit einer Lese-RechtschreibSchwäche
alleine helfen können.
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